Ein steiniger Weg (1032) Teil 03

Aus AlberniaWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Hinter dem Leuenblick

Morgan Kerkall blickte aufmerksam zu den weit entfernten Ausläufern der Windhag-Berge hinüber, die sich im Nordwesten gemächlich im Hügelland der Grenzmarken verloren, ehe der Große Fluss viele Tagesmärsche von hier, sein großes Mündungsdelta erreichte. Heute Morgen hatte man den Windhag wegen des kalten Nebels nur als Schattenriss gesehen. Zu seiner Rechten erstreckte sich der urwüchsige Gundelwald. Seit zwei Praiosläufen folgten sie nun schon dieser Waldwildnis und hatten diese wohlweislich über die Baronie Crumold und das Steinvasallengut seines Waffenbruders Arnvald Wellenstein umgangen. Die Menschen in Crumold hatten offenbar jede Ehrfurcht vor den Schrecken und Geheimnissen des Waldes verloren. Nicht wenige von ihnen betraten mit der Axt in der Hand den alten Wald. Ein gefährlicher Frevel befand Morgan.
Vor gut drei Tagesstunden hatten sie nun schon die Turmruine Leuenblick passiert und damit Nebelwacht verlassen. Die Vorhut ihrer kleinen Schar, bildete ’die Gräfin’, mit ihrer anmutigen Tochter Rhona und dem Löwenrat Taladan. Alle drei äußerst wortkarg, dem schweigsamen Gott Boron zum Wohlgefallen.
Morgan ließ die Zügel locker und blickte vom Kutschbock nach hinten. In der Nachhut ritten Herr Rondred und Herr Rhonwian, offenbar in ein Gespräch vertieft. Gerne hätte er sich zu diesen gesellt. Stattdessen hatte er sich bereit erklärt, diesen schweren Wagen hier zu lenken, in dem sich die Versorgungsgüter stapelten, die sie nach dem Kampf im Bärenwald, aus dem zurückgelassenen Tross des falschen Barons von Wallersrain, Falk von der Steinau, requiriert hatten. Und im Grunde wäre die Reise auch für ihn angenehm ruhig verlaufen, hätte sich nicht seit Abilacht eine neugierige Wildkatze gerade auf seinen Kutschbock verirrt, die ihn zusehends Löcher in den Bauch fragte.
Thalania zählte bereits vierzehn Sommer und war schon fast eine Frau. Sie war die jüngste Tochter von Cailean Stepahan, der vor seinen Augen in der Baronie Bockshag den Schlachtentod fand. Ihr Vater war ein tapferer Ritter gewesen, der das Leben anderer über sein eigenes gestellt hatte. Morgan war an seiner und Rhégeds Seite in die Schlacht geritten und brachte genau auf diesem Fuhrwerk hier, beide wieder zurück. Von Bockshag über Varnyth in Nostria nach Crann Ferhal. Den einen schwer verletzt, den anderen balsamiert und mit einem einfachen Leichentuch bedeckt. Bisher hatte er sich anstandshalber ausgeschwiegen. Ebenso hielt es sich stets bedeckt, wenn sie ihn geschickt in ein Gespräch über den genauen Schlachtverlauf im Bärenwald aushorchen wollte. Auch Rhéged der in seiner Nähe ritt und noch immer glaubte, er müsste irgendwem hier etwas beweisen, hatte bisher seinen Mund gehalten. Wie sollte man Thalania auch erklären, dass ihr Vater wehrlos unter seinem Pferd begraben, ehrlos von zwei Soldaten niedergemacht wurde. Morgan hatte die Bilder und Sinneseindrücke genau vor Augen. Aber diese im unbeschwerten Kopf der zukünftigen Schildmaid zu wissen, wollte er nicht verantworten. In Draustein würde sie früh genug dem Tod gegenüberstehen und er hatte immer ein hässliches Gesicht. Ihr Großvater war Jendar Stepahan, der jüngere Bruder von Tuachall Stepahan und Oheim ’der Gräfin’. Maelwyn Stepahan war es ihrem Blutsverwandten schuldig gewesen, seine Tochter in Draustein aufzunehmen und in rondragefällige Knappschaft zu geben, ganz so wie es seit jeher im Hause Stepahan Brauch war.
’Die Katze’, wie Morgan die junge Thalania nannte, war trotz des frühen Verlustes ihres Vaters, selten von schwermütiger Stimmung, oder verstand diese geschickt vor ihm zu verbergen. Thalania erinnerte ihn mit ihren lockigen dunklen Haaren an eine verwundete Wildkatze, der er sich bei der Überquerung des Raschtullswalls einst angenommen hatte. Nur selten hörte er sie in der Nacht schluchzen und noch seltener sah er sie noch heimlich weinen. Zumeist wischte sie dann eilfertig ihre Tränen mit dem Ärmel ihrer Cotte aus den Augen und wendete ihr Antlitz ab.
Thalania war auch so neugierig wie ein junges Kätzchen, das zum ersten Mal seinen Wurf verlassen hatte und auf eigenen Pfoten die Welt durchstreifte. Die Straßen und Menschenmassen in Abilacht hatten sie in ungläubiges Erstaunen versetzt. Die letzten Tage faszinierte sie besonders der unheimliche Gundelwald, mit seinen tiefen Wäldern und alten Sagen. Nachdem Morgan ihr jede Weise erzählt hatte, die er über grausame Unholde, boshafte Biestinger, die rachsüchtige Hexe Gundel und die zaubermächtige Fee Gunderiel kannte, war der geachtete Streiter am Ende seiner Geduld.
Er war ein begnadeter Kämpfer und kein Barde. Und als ihn Rhéged einmal als alte Amme bezeichnet hatte, genoss dieser trotz seiner Beinverletzungen ein kühles Bad im Fluss. Obwohl er dem unermüdlichen Naseweis im Augenblick förmlich überdrüssig war, fühlte er sich dennoch ‘der Katze‘ aus verständlichem Grund verpflichtet.

‚Ob ich ihn jetzt noch mal Frage?’ Thalania verfolgte das Gespräch zwischen Herr Rhéged, Herr Morgan und Herr Lûran mit gespitzten Ohren. Zwar verstand sie nicht viel von dem, was die Männer sprachen, doch bemerkte sie ihre gelöstere Stimmung. Sie entschloss sich, einen Vorstoß zu wagen und legte ihren Kopf leicht schief, wie sie es bei ihrem Vater auch immer getan hatte, wenn sie ihn um etwas gebeten hatte, was leicht abzuweisen war. Ein kurzer Stich der Erkenntnis und des Schmerzes durchzuckte sie, als sie an den geliebten Vater dachte, äußerlich wusste sie diese Regung jedoch gut zu verbergen.
‚Niemals Schwäche zeigen, kleine Löwin.’
Wie oft hatte er das zu ihr gesagt. Ihre Hand glitt leicht zu Morgans Oberschenkel, nur der Hauch einer Berührung, denn sie hatte großen Respekt vor dem starken und rondragefälligen Kämpen. Er war ein harter Lehrmeister und schon bald würde er ihr als Waffenmeister der Burg den Umgang mit Schwert, Morgenstern und Streitaxt beibringen. Vielleicht würde der Baron sogar Ritter Morgan fragen, ob er ihr zukünftiger Schwertvater werden wollte?
"Und was ist jetzt?", verließ ihre Lippen ein Tonfall, der eine gewisse kindliche Ungeduld ausdrückte. Morgan wusste genau, worum es ging, denn schon seit Abilacht fragte das Mädchen ihn immer wieder, ob sie einmal die Zügel des Gespannes halten dürfe. Bisher hatte er sie immer vertrösten können. Morgan zuckte bei ihrer Berührung leicht zusammen, verdrehte unweigerlich die Augen und atmete tief aus.

"Jetzt hör mal zu Mädchen", begann Morgan erneut in tadelndem Tonfall: "Du sitzt hier nicht auf einem Tagelöhner Karren, noch ist dies ein einfaches Ochsengespann. Dies ist ein lenkbarer Zweiachser, mit hohen... ", Morgan schüttelte bärbeißig den Kopf.
"Du weißt ja doch nicht, wovon ich spreche, hab ich recht?" Der Weiße Löwe sah den traurigen Blick von Thalania.
"Also gut", gab er unwirsch von sich und reichte ihr die Zügel.
"Du hältst sie ganz locker in beiden Händen. Brauchst gar nichts weiter machen. Die vier Warunker sollten allein den Weg finden. Und keine Angst, ich werde dir dabei genau zu sehen." Die letzten Worte hatte er wohl eher zu sich selbst gesprochen, als zu dem neugierigen Mitreisenden an seiner Seite.
Stolz und Freude zeichneten sich auf Thalanias Gesicht ab, als ihr Morgan die Zügel reichte. Zwar war ihre Haltung vorher schon aufrecht, doch nun schien sie noch einmal einen Spann größer. Kurz war sie versucht, Morgan trotzig zu entgegnen, dass sie keine Angst habe, doch Trotz war keine Tugend für eine Stepahan und so hielt sie sich zurück. Jetzt hieß es nur noch, auch alles richtig zu machen.
"Habt Dank!" sprach sie höflich, doch allein der Glanz ihrer Augen und ihr Lächeln zeugten von der Freude, die sie empfand.
"Was für hohe... hat denn der Wagen?" fragte sie, als sie die Zügel entgegen nahm und versuchte, die Leinen in ihren Händen zu ordnen. Sie hatte Morgan genau zugehört und kein unvollendeter Satz war sicher vor ihrer Neugier. Doch schien Thalania nicht sehr konzentriert auf eine mögliche Antwort, denn sie achtete mit wachen Augen auf ihre Hände, die Zügel und die vier Pferde.
"Bordwände!", gab dieser unwirsch zurück. "Etwas mehr Zug. Das Gespann soll ruhig spüren, dass du es im Griff hast!" Morgan legte die Stirn in Falten.
"Wenn du diese Eiche dort auf dem Hügel passiert hast, von dem gerade Seine Hochgeboren und der Herr von Nebelwacht zurückkehren, dann werd ich wieder die Zügel übernehmen." Das letzte Stück war leicht abschüssig und auch die Steinbrücke über den Draufall musste erst einmal gemeistert werden. Und da das Gespann nicht an das tosende Geräusch des Wasserfalls gewöhnt war, konnte Morgan hier kein Wagnis eingehen.
"Gut." Auf welche von Morgans Ausführungen Thalania geantwortet hatte, wurde nicht ganz klar, aber auf ihrer Stirn konnte man ganz klar erkennen, wie sehr sie sich konzentrierte. Denn so einfach, wie sie es sich gedacht hatte, war es nicht, das Gespann zu lenken. Doch aufgeben würde sie nie, so weit war der Weg bis zur Eiche ja nicht. Sie nahm die Zügel ein wenig auf, doch schien eine zu kurz zu sein, denn eins der Pferde schüttelte unruhig den Kopf. "Oh!" Das Mädchen reagierte blitzschnell, bevor Morgan eingreifen konnte und korrigierte ihren Griff in das Leder und das Pferd beruhigte sich wieder. Freudig und stolz lächelte sie den Mann neben ihr an.

Die ’Stimme des Löwen’, wie man in der Heimstatt der Löwen traditionell den Kanzler nannte, war seit den frühen Morgenstunden nicht mehr vernommen worden. Noch vor der Überquerung der Gundel, hatte der Löwenrat gemeinsam mit ’der Gräfin’, Arnvald, Morgan und der Rondrageweihten Rhona andächtig die Schwerter erhoben, um beim ersten Schritt auf Drausteiner Boden, den Schwertschwur zu erfüllen, den die wenigen Überlebenden nach dem Fall von Burg und Baronie abgelegt hatten.
Nun ritt er schon seit einigen Stunden schweigsam und in sich gekehrt den Leuenstieg entlang. Turon Taladan war ein großgewachsener Mann, mit immer noch dichtem mittellangem Haar und einem imposanten Kaiser Alrik Bart, der ebenso grau war wie sein Haupt. Über dem naturfarbenen wattierten Waffenrock trug er trotz seines Alters immer noch ein ringvernietetes Kettenhemd und darüber den standesgemäßen rotweißen Wappenrock der Weißen Löwen. Im Gesicht des über sechzigjährigen Ritters hatten sich über die vielen Lebensjahre tiefe Falten eingeschnitten. Turon Taladan diente Zeit seines Lebens dem Hause Stepahan. Niemand unter den Edelfreien stand länger in den Diensten des hohen Hauses als er.
Arlan Stepahan war nun schon der fünfte Herrscher in Draustein, dem der Taladan als Kanzler folgte. Turon war einer der wenigen Knappen von Tuachall Stepahan gewesen. ’Der Alte vom Berg’, wie ihn die Ritterschaft vom Schwertbund der Weißen Löwen zu Draustein respektvoll genannt hatte, war stets ein gerechter und gestrenger Herrscher gewesen. Sein Schwertvater war ein großartiger Lehrmeister, ein Ritter vom alten Schlag, stolz und unbeugsam. Unter ihm wurden Ritter wie Arnvald Wellenstein und Morgan Kerkall geschmiedet. Aber auch die Schwester von Ritter Rhonwian, Rahjalyn Herlogan wusste um die Achtung der Knappschaft. Stumm gedachte er der alten Zeiten. Seit jeher galt es in Draustein als große Ehre, in der Gefolgschaft des alten Hauses zu stehen. Aber eine noch viel größere Ehre wurde jenen zu Teil, die man für würdig bemaß, den Weißen Löwen anzugehören. Aber nicht in alle Hallen der Edelfreien drang jemals der ’Ruf des Löwen’. Und so blieb die Aufnahme in ihre Reihen, stets die größte Anerkennung für einen Ritter. Auch zu Lebzeiten seines Schwertvaters, blieben manche der zwölf Plätze im Schwertbund vakant.
Turon Taladan beschloss, dass er für heute genug der Vergangenheit gedacht hatte. In der Ferne sah man die Hofstätten von Galgenholz, einem kleinen Grundholdendorf am Rande der Hänge des finsteren Gundelwaldes. Nicht mehr lange und sie würden auch Draustein erblicken.

Rhéged Taladan, der Sohn Turons war noch immer vom Krieg gezeichnet. Sein rechter Oberschenkel, welcher vor kurzem noch eine tiefe Wunde hatte, plagte ihn, fast zwei Monde nach dem Kampf im Bärenwald, immer noch. Zumindest war ihm die Schmach erspart geblieben, liegend auf einem Fuhrwerk Drausteiner Boden zu betreten. Doch zog bei nahezu jedem Tritt seines Pferdes, ein Schmerz durch sein Bein. 'Ein Wundarzt würde mich einen Narren schimpfen. Doch ich werde Draustein nicht liegend erreichen.' Um sich von dem Schmerz in seinem Bein abzulenken, dachte er an den erhabenen Moment, als die Überlebenden ihren Eid erfüllten und mit gezogener Waffe heimatlichen Boden betraten. Leider riss ihn eine kleine Unebenheit aus seinem Tagtraum. Schmerzvoll verzog Rhéged das Gesicht.
"Bei Rondra, es wird noch eine Ewigkeit dauern bis ich wieder vernünftig kämpfen kann?"
Lûran wandte seinen Blick auf Rhéged, welcher einige Schritt vor ihm ritt. Unwillkürlich begann er zu lächeln.
"Bei Rahja, die holde Weiblichkeit wird sich dann wohl auch noch einige Zeit gedulden müssen, Rhéged!" Breit grinsend wartete Lûran auf die Erwiderung seines Schwertbruders, denn er war der düsteren Gedanken überdrüssig und hoffte, ein wenig Zerstreuung zu finden. Seit dem Aufbruch aus Abilacht waren seine Begleiter überaus in sich gekehrt und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Lûran mochte nicht daran denken, was sie alle bei der Heimkehr nach Draustein erwartete und welche Arbeit hier auf sie zukam. Je mehr Gedanken er sich darüber machte, umso mehr sank sein Mut und seine Zuversicht, dies alles bewältigen zu können.
Morgan lächelte verstohlen zu den neben seinem Wagen einher reitenden Rittern und bemerkte in seiner eigentümlich trockenem Art: "Ich glaube, dass du dabei nicht Rondra bemühen solltest Rhéged, sondern Satinav."
Rhéged schreckte auf! 'Habe ich gerade laut gedacht? Ich muss wirklich noch nicht ganz bei Sinnen sein.’ Er schüttelte leicht seinen Kopf und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Anschließend schenkte er Lûran ein schmerzhaft verschmitztes Lächeln: "Ich weiß nicht, ob ich dich dafür schlagen soll, da du mir einen weiteren Nachteil meiner Wunde aufgezeigt hast, oder ob ich dich umarmen soll für deine Fürsorge." Deutlich leuchtete der Schalk aus Rhégeds bernsteinfarbenen Augen, als Lûran abwehrend seine Hände erhob. Anschließend drehte er sich zu Morgan: "Sicher Satinav, aber vielleicht kann die Leuin ihm ein bisschen Beine machen." Verschwörerisch zwinkerte er ihm zu.
Morgan winkte unbeeindruckt ab. "Zumindest ist nun so manche brave Bauernmagd für einige Zeit sicher vor deinen Gunstbeweisen." Rhégeds Waffenbruder legte seine Stirn in Falten. "Stimmt es eigentlich, dass auf Burg Jasalintir die Schafe schöner sind, als die Frauen?"
Natürlich war dies ausgemachter Unfug und Morgan wusste nur zu gut, dass Rhégeds Schwester Avana zu den schönsten Frauen gehörte, die er jemals gesehen hatte und es zudem wie keine zweite in Draustein verstand, die Männer um den Finger zu wickeln.
Mit einem spöttischen Gesichtsausdruck konterte Rhéged: "Ja, die holde Weiblichkeit wird verwirrt und verloren durch Draustein wandern und weder ein noch aus wissen. Ach, welch Leid wird in den nächsten Wochen über uns kommen. Doch ich werde diese Tragödie überstehen und gestärkt aus ihr hervorgehen", klagte er und wandte sich dann Ritter Morgan zu: "Die Schafe der Schildwacht sind in der Tat lieblicher als jene der Flusswacht oder Nebelwacht, vielleicht ist dies ja der Grund, warum Herr Morgan so gerne auf Burg Jasalintir weilt?" Rhéged genoss sichtlich den Schlagabtausch. Wie lange war es schon her, dass man im Kreis der Waffenbrüder einfach zwanglos scherzen konnte, ohne an den nächsten Kampf zu denken. 'Erschreckend, aber ich genieße den Frieden' gestand sich der Weiße Löwe ein.
Lûran lachte auf und blickte dabei verstohlen über die Schulter zu den beiden anderen Fuhrwerken und dem Tross der heimkehrenden Flüchtlinge. Der alte Ywain saß auf dem Kutschbock des zweiten Wagens, welchen man beim Kampf um Bockshag erbeutet hatte und zog genüsslich an seiner Pfeife. Sein Gesicht verriet Lûran, dass er dem lauten Gespräch gefolgt war und ebenfalls seine Freude dabei hatte. 'Tut gut, den Alten mal wieder lächeln zu sehen', dachte Lûran bei sich. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Morgan.
"Wie es scheint, ist nur dein Schwert stumpf. Deine Zunge ist so spitz wie eh und je."
Morgan kratze sich unbeholfen an seinem unrasierten Kinn und versuchte sich ein wenig zu beruhigen. Allein der Gedanke an Rhégeds Schwester versetzte sein Herz in seltsamen Aufruhr. Bisher hatte er seine Zuneigung für die vor vielen Jahren erblühte Schönheit stets verbergen können. Aber er war nicht der einzige Mann von Stand, der hier für sie schwärmte. Aber da er ein grausamer Sänger war und sich weder auf die Dichtkunst noch auf das Lautenspiel verstand, würde er wohl nie ihre Aufmerksamkeit erlangen. Es war ein schmaler Hohlweg, aus dem es keinen Ausstieg gab. Avana war unerreichbar für ihn. Zuletzt hatte er sie in Draustein getroffen. Das lag jetzt mehr als vier Götterläufe zurück. Wenn sie noch am Leben war, musste sie nun Mitte Zwanzig sein. Morgan verwarf alle weiteren Gedanken an die Flucht der Edelfreien. Er sah, dass seine Gefährten auf eine weitere Antwort von ihm warteten. Lieber ließ er sich hier von Rhéged als Schafbeglücker vorführen, als sich ungewollt zu verraten: "Die Schafe Jasalintirs waren schon immer eine Reise wert, Herr Rhéged. Und das nächste Mal sollten wir unserem Gaste hier", Morgan sah kurz zur jugendlichen Thalania, "die Ohren mit Bienenwachs verschließen, falls sie noch einmal in den Genuss unserer zweifelhaften Gesellschaft geraten sollte."
Rhéged blickte belustigt in Richtung Morgan und Thalania. "Also so wie unsere junge Kutscherin aus sieht, bekommt sie es noch nicht mal mit, wenn man ihr den Bock unter dem Hintern stiehlt." Rhéged war nicht ganz unzufrieden mit der Entwicklung des Gesprächs. Er würde in den nächsten Wochen noch genügend Spitzen bezüglich seiner Verwundung zu ertragen haben.

Der gutmütige Ywain genoss sichtlich die letzten Praiosstrahlen auf seinen vom Alter gezeichneten Händen und den herben Geruch des Pfeifenkrautes, dass sein junger Herr für ihn in Abilacht erstanden hatte. Der kalte Morgennebel im Steinvasallengut des Herrn Arnvald hatte sich tief in seine Knochen gefressen. Obwohl er schon immer ein zupackender Mann gewesen war, hatte ihn der Krieg doch viel Kraft gekostet. Er war inzwischen einfach zu alt und behäbig für das Waffenhandwerk und auch sein Augenlicht ließ schon seit Jahren deutlich nach. Dennoch reichte seine Erfahrung alle Mal, dieses Fuhrwerk hier sicher zu beherrschen und nach Draustein zu bringen. Schließlich hatte er in dem Planwagen wichtige Leute. Er fühlte sich geehrt als ’die Gräfin’ ihn persönlich mit Namen ansprach und auswählte so hochgestellte Herrschaften sicher nach Draustein zu geleiten.
Ywain diente den Steinvasallen der Flusswacht. Zuerst Junker Aelmir Falkraun und nach dessen schwerer Krankheit, seinem erstgeborenen Sohn Aethelred. Als dieser wie so viele der Drausteiner Edelfreien seinen letzten Atemzug auf Crumolds Auen aushauchte, folgte Ywain auch Aelmirs drittgeborenem Sohn Lûran. Schließlich war der zweitgeborene Sohn Travian schon vor dem Krieg aus der Erbfolge der Familie ausgeschieden, da dessen Schwertvater Turon Taladan diesem die Schwertleite verwehrt hatte. Travian war ein guter Mann, aber in den Augen des erfahrenen Drausteiner Kanzlers eben nicht den hohen Anforderungen eines tugendhaften und wehrbaren Ritters gewachsen. So diente Travian fortan als Edelknappe. Nicht jeder von adligem Geblüt war nun einmal zum Ritter geboren. Ein solcher Edelknappe konnte aber für die Stepahan niemals als würdig genug befunden werden, mit dem Steinvasallengut Flusswacht belehnt zu werden. Wie Travian Falkraun den Krieg überstanden hatte und ob er überhaupt noch lebte, wusste Ywain nicht zu sagen. Aber das war im Augenblick auch belanglos. Seine Sorge galt Hylgwen der Bognerin, die seine Hochgeboren schon vor zwei Tagen voraus geschickt hatte, um die Lage in Draustein zu erkunden.
Lûran, der während des Gesprächs des Öfteren zu Ywain blickte, bemerkte den Schatten, der sich über Ywains nachdenkliches Gesicht gelegt hatte. Mit sanftem Zug an den Zügeln brachte Lûran seine Elenviner Stute dazu, ihren Schritt zu verlangsamen und ließ sich zurückfallen. "Ywain, was bedrückt dich?", fragte er, als er auf wenige Schritte an diesem heran war.
"Ich kenne diesen Ausdruck in deinem Gesicht und ich habe in den letzten Götterläufen gelernt, dass du ihn nicht dazu verwendest, um kleine Kinder zu erschrecken!" Ywain nahm sogleich die lange Buchenholzpfeife aus dem Mundwinkel, um sich angemessen zu erklären: "Das ist wohl wahr! Euer Wohlgeboren scharfem Blick entgeht nicht viel. Ich bin in Sorge um die gute Hylgwen. Sie hätte am Leuenblick auf uns warten sollen."
Lûran sah Ywain einen kurzen Augenblick nachdenklich an. In der Tat war dies ein Grund beunruhigt zu sein, denn Hylgwen hatte sich stets als äußerst pflichtbewusst und verlässlich erwiesen. Trotzdem konnte sich Lûran nicht vorstellen, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte. Kaum ein anderer kannte sich so gut innerhalb der Grenzen Drausteins aus wie die 'lange Hylgwen'. Umsicht, Vorsicht, Ausdauer und Geduld waren ihr in die Wiege gelegt worden und machten sie zu einer hervorragenden Jägerin. "Mach dir keine Sorgen Ywain! So leicht ist unsere Hylgwen nicht zu fangen. Wie oft ist sie schon durch die Linien des Feindes geschlüpft und wurde dabei nicht mal bemerkt? Auch du hast dich so einige Male fast zu Tode erschrocken, als sie von ihren Erkundungen zurückkehrte und plötzlich wie aus dem Nichts in unserem Lager stand. Ein einfacher Jäger ist keine lohnende Beute für einen Dieb und Schwarzpelze riecht unsere Hylgwen fünfzig Schritt gegen den Wind" erzählte Ywains Herr.
"Nun, und eine Schönheit ist sie dann nun auch nicht", fügte Lûran hinzu.
"Da habt ihr wohl recht mein Herr", gestand Ywain und sorgte sich dennoch um die wildniskundige Gefährtin. Es gab auch nach dem Krieg andere Gefahren auf die man achten sollte. Wer konnte schon sagen, was sich alles im Nebel des Gundelwaldes verborgen hielt? Lûran lächelte den Alten verschmitzt an.
"Sie wird einen guten Grund haben, dass sie nicht am Leuenblick war und ich bin mir sicher, sie ist wohlauf." Noch während der Alte versuchte, die ermutigenden Worte seines Herrn zu erwidern, vernahm Lûran den Ruf seines guten Freundes und jungen Lehnsherrn Arlan Stepahan. Abrupt hielt der Wagenzug.
"Wir reden später weiter, Ywain. Mach dir keine Sorgen!" Mit diesen Worten trieb Lûran sein Streitross an, um an die Spitze des Trosses zu reiten.
Ein verhaltenes "Brrr…", kam hingegen aus Thalanias Mund. Ein Fuhrwerk am Weiterlaufen zu halten, war ja schon schwer gewesen, doch jetzt auch noch anhalten! Thalania wurde heiß und kalt. Das Mädchen zog an den Zügeln, etwas zu sehr und doch mit gewünschtem Erfolg. Die Pferde blieben stehen, jedoch zu abrupt. Thalania, die mit diesem Halt nicht gerechnet hatte und sich in die Zügel gelehnt hatte, schlug unsanft mit dem Hinterkopf gegen die Rückenlehne des Kutschbocks. Der Schmerz fuhr ihr durch den Kopf, doch sie verzog nur unmerklich das Gesicht.


~*~


Als Rhéged den Ruf seines Schwertbruders vernahm, wirkte er kurz zerstreut. Zu sehr hatte er sich bereits in die zwanglose Unterhaltung mit Morgan vertieft. Als er endlich der Lage gewahr wurde, wandte er sich sogleich dem altgedienten Gefährten zu. "Der Löwe ruft. Doch noch gebe ich mich hier nicht geschlagen, Morgan!"
Ein Lächeln umspielte seinen Mund bevor er eine teilnahmslose Miene aufsetzte und seinem Pferd mit den Sporen in die Flanke trat. Nach kurzem Ritt, traf er bei Arlan ein, schlug die Faust auf das Herz und sprach mit gewinnender Stimme: "Ihr habt gerufen, Hochgeboren. Welche Weisung habt ihr für mich?"
Lûran erreichte seinen Herrn kurz nach Rhéged, beließ es jedoch bei dem gewohnten Gruß und erwartete, das Anliegen seines Freundes zu erfahren.
Sicherlich galt Rhégeds formvollendeter Antritt mehr dem Stand und Titel des Barons von Draustein, als dem alten Freund aus Kindertagen, mit dem er einst gemeinsam Burg Draustein unsicher gemacht hatte. Stets hatten sie den Anstand besessen, ritterlich und ergeben die Stockhiebe entgegenzunehmen, mit der man sie für ihre Narreteien züchtigte. Auch Lûran war in jenen Tage für so machen Unfug zu gewinnen gewesen. Sie drei waren schon lange vor ihrem Ritterschlag und ihrer Berufung zu den Weißen Löwen, eine verschworene Gemeinschaft. Seid diesen Tagen, hatte sich seine Welt jedoch grundlegend verändert.
Bitter wurde Arlan daran erinnert, dass seine geschworenen Schwertbrüder nun seine Vasallen waren und nicht mehr die seines Großvaters Tuachall, seines Oheims Turvin, seines Oheims Corrin, oder gar die seiner Mutter Maelwyn. Nun war er der Herr Drausteins.
Bereits vor einem Jahr war er auf Befehl seiner Mutter mit einigen Rittern aus Crann Ferhal im nostrischen Seenland, dem Rittergut seines Anverwandten Jendar Stepahan aufgebrochen, um sich der Havener Flussgarde mit dem Schwert in der Hand zu stellen. Ein Brandritt ins besetzte Draustein. Nominell hatte zwar er als 'Erbe Drausteins', ihrer kleinen Schar vorgestanden, aber in Wahrheit führte sie Arnvald Wellenstein, der erfahrene Wehrmeister Drausteins in den Kampf und dieser sprach nahezu jedes Unterfangen mit Morgan ab. Lûran und Rhéged waren überlegte Streiter und bedurften sicherlich ebenso wenig Arlans Führung. Was hatte sich an diesem Umstand geändert? Er musste sich erst noch an seine Berufung zum Baron von Draustein gewöhnen und vertrauter mit seinen neuen Aufgaben und Pflichten werden - und vor allem mit den hehren Erwartungen, die so kurz nach dem Krieg alle an den Gefährten aus alten Tagen hatten.
Arlan bemaß mit durchdringendem Blick seine Gefährten und wies in Richtung Burg: "Ihr beide wisst, dass wir Burg Draustein mit dem Anbruch der Nacht erreichen. Unser aller Geduld muss aber so kurz vor dem Ziel noch einmal auf die Probe gestellt werden. Ohne Hylgwen ist unser Zug blind, da wir gegenwärtig nicht weiter schauen als der Vorhut Augen reichen. Seht für uns, die wir hier auf eure Rückkehr warten auf den Draustein".
Arlan nickte seinem Schwertvater knapp zu, um ihm die weitere Order zu überlassen. Ohne dessen weiteren Ausführungen zu lauschen, gab er seiner Stute die Sporen um seiner hohen Mutter entgegen zureiten, die sich ihrerseits an die Spitze des Zuges begab. Mit einer deutlichen Verneigung gab der Wehrmeister Drausteins seinem Herrn zu verstehen, dass er dessen Wunsch sogleich nachkommen würde. Arnvald trabte auf seinem Ross näher an die beiden Männer heran. Die Hände auf dem Sattelknauf verschränkt, räusperte sich Arnvald.
"Ritter Lûran, Ritter Rhéged. Ich habe einen Auftrag für euch. Wie ihr wisst, hat Hylgwen uns vor zwei Praiosläufen verlassen, um die Lage hier vor unserer Ankunft auszukundschaften. Wir kennen Hylgwen als eine der Erfahrensten, wenn es solche Aufgaben zu erledigen gilt. Nun ist mehr Zeit als erwartet ohne eine Nachricht von ihr verstrichen. Aus diesem Grund sollt jetzt ihr beide zur Burg aufbrechen und euch dort umschauen. Seht nach, was uns bei unserer Ankunft erwartet und haltet eure Augen auch nach Hylgwen offen. Auf Gegenwehr werdet ihr sicher nicht stoßen. Wie ihr wisst, hat die Havener Flussgarde nach dem Frieden von Abilacht schon vor Wochen die Lande am Unterlauf des Großen Flusses verlassen."
Mit eisernen Augen musterte Arnvald seinen Neffen. "Rhéged, ich hoffe, du kannst mit Lûran reiten. Ich vertraue auf euch beide als Weiße Löwen." Mit hochgezogenen Augenbrauen erwartete Arnvald Wellenstein die Antwort der beiden Recken.
Rhéged hörte aufmerksam den Beschreibungen und Anweisungen des Wehrmeisters zu. Abschließend nickte er kurz und sprach: "Die Verletzung wird mich auf dem Weg nach Draustein keineswegs behindern." Rhéged sah Lûran an: "Bereit?"
Mit ernstem Gesicht wandte Lûran seine Augen von Arnvald ab und hin zu Rhéged. Er zögerte kurz. "Ja, dann lass uns aufbrechen!" Noch während er sein Pferd zum Abschied steigen ließ, spähte er für einen kurzen Moment in Richtung des Gundelwaldes, welcher sich dunkel und bedrohlich gen Firun erhob. Ein unheilvolles Gefühl beschlich ihn. Fast war es ihm, als würden ihn hundert Augenpaare beobachten und ihnen allen nach dem Leben trachten. Er schüttelte diese Gedanken ab und gab seinem Pferd die Sporen. Rhéged bemerkt durchaus das ernste Gesicht seines Freundes. Er wusste auch, dass Arnvald und Arlan ihn nicht ohne Grund los schicken würden. Doch so leicht ließ er sich seine gute Stimmung nicht verderben. Es hatte in den letzten Monden genug schlimme Gründe für eine verspätete Wiederkehr gegeben…, zu viele schlimme Gründe..., doch jetzt war Frieden. 'Muss ja nicht alles gleich böse enden'. Rhéged trat seinem Pferd in die Flanke und seinem Bein es einfach abzuschneiden, wenn es weiter schmerzen würde. Doch schnell lenkte ihn das Rauschen des Windes und das herrliche Gefühl im Galopp über die restliche Wegstrecke zu jagen von dem pochenden Schmerz ab. ‘Draustein. Endlich!‘
Mit ruhigem Herzen blickte ‘der Schwarze Fels‘ den beiden Löwenrittern hinterher, wie sie den letzten Anstieg zur Stammfeste der Stepahan hinunterritten. Endlich kamen die Löwen zurück. Lange war die Zeit der Abwesenheit, der Ungewissheit und des Wartens gewesen. Zu lang! Er konnte sich immer auf Lûran und Rhéged verlassen. Oft hatten sie in vergangenen Zeiten ihr Können, ihre Tapferkeit und ihren Mut vor der Sturmherrin unter Beweis gestellt.


~*~


Nur langsam kam der Tross aus heimkehrenden Flüchtlingen voran. Der Krieg hatte sie von ihrer Scholle vertrieben und den meisten von ihnen kaum mehr gelassen, als sie tragen konnten. Nur wenige hatten einen Karren und noch weniger besaßen einen Ochsen, der ihn zog. Auch die Aussicht, bald das Ziel ihres mühsamen Weges zu erreichen, beschleunigte ihre Schritte kaum. Die Erntezeit ging bereits zu Ende - aber im Frühjahr hatte niemand ihre Felder bestellt. Ein weiterer Hungerwinter stand ihnen also bevor und auch er würde zahlreiche Opfer fordern. So folgten die meisten Grundholde dem Weg still und schweigend, die zum Teil ausgelassene Stimmung ihrer Herren spiegelte sich nur in der einiger Kinder, die jung genug waren, den Zug nach Draustein als willkommenes Abenteuer zu sehen.
Die berittene Nachhut folgte dem Tross aus Karren und mit Kleinkindern oder spärlichem Hab und Gut beladenen Leibeigenen in gemächlichem Trott. Rondred Stepahan, der Vetter des Barons war ein stämmiger Recke mit kastanienbraunen Haaren, sorgsam gestutztem Vollbart, hoher Stirn und gerader Nase. Gewandet in den Wappenrock der Weißen Löwen und geschützt von Kette und Stahl, ritt er neben Rhonwian Herlogan, den er trotz der kurzen Zeit, die sie einander kannten, bereits ohne Zögern einen guten Freund nannte. Dass er ihn, seine Familie nun nach Draustein begleitete, hatte ihn einmal mehr darin bestätigt. Wortreich erzählte er von Draustein und seinen Erinnerungen, erklärte dem Herlogan, was dieser seiner Meinung nach zu den Ortschaften und Örtlichkeiten am Wegrand wissen müsste und wies ihn auf besondere Wegmarken hin.
Jener hörte interessiert zu und stellte hier und da eine Frage, schien jedoch mit fortschreitendem Weg zunehmend in sich gekehrt. Er kam nicht zum ersten Mal hierher. Doch das letzte Mal schien unendlich lange her zu sein, in einer anderen Zeit und einem anderen Albernia. Vor dem Krieg...
Der Leuenstieg führte ihn damals an der Seite seines Schwertvaters zum Turnier der Stepahan - und zur Hochzeit seiner Schwester Rahjalyn mit Annlair Crumold. Eine Zeit voller Freude und Hoffnung. Und wo stand Albernia nun? Und das Haus Herlogan?! Einige Augenblicke ganz in Gedanken versunken und seiner Umgebung nicht mehr gewahr schüttelte er den Kopf.
Rondred, der um wenige Jahre ältere Vetter des Barons von Draustein, war guter Dinge. Am Tag der Heimkehr konnte man ihm das auch kaum verdenken. Er war froh wieder in der Heimat zu sein, glücklich noch zu leben. Vor allem dachte er aber an seine Schwester, die zusammen mit den anderen in den Windhag geflohen war. Dass sie alle noch am Leben waren, wagte er kaum zu hoffen. Auch sie galt es, nach Draustein zurückzuführen.
Müde schweifte sein Blick über die Heimkehrenden. Sie alle hatte der Krieg schwer gezeichnet. Gleich ob Grundhold, Freier oder Steinvasall. Alle hatten letztlich viel verloren. Der eine Haus und Hof, der Nächste seine Anverwandten. In diesem Zug gab es keine Sieger und Kriegsgewinnler. Hier kehrten alle mit Verletzungen aus der Fremde heim. Äußere, die bereits vernarbten, oder innere Wunden, die wohl nie gänzlich heilen würden.
"Auch in Draustein werden die Zeiten nicht einfacher werden", erzählte Rondred kühl. "Zumindest nicht in den ersten Götterläufen. Jeder Grundhold hat in Draustein schwer zu kämpfen. Ihre Waffen sind aber nicht Schwert und Lanze, sondern Holzpflug und Sichel. Ihr Schlachtfeld war schon immer die fruchttragende Scholle. So haben es die Zwölfe bestimmt." Rondred zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Als Stepahan bin ich zwar für diese Menschen verantwortlich, empfinde aber kein Mitleid für ihre Nöte. Während die Freien und Edelfreien seit jeher mit ihrem Leben für ihre Heimat stritten, wusste sich ein Grundhold stets sicher hinter den steinernen Mauern von Draustein, oder einer anderen Burg. Ihre Vorfahren haben sich bereitwillig in den Schutz meines Hauses begeben."
Rondreds freundliche grüngraue Augen bemerkten Rhonwians Verdrießlichkeit. Sogleich besann sich der mittelgroße Mann aber auf ihrer beider Stand, ihre Freundschaft und das diese Schwermut unmöglich seinen Erzählungen von Land und Leuten geschuldet sein konnte. "Du hast wohl andere Sorgen, als einem Heimkehrenden zu lauschen!?", bemerkte er weiter.
Erneut schüttelte Rhonwian den Kopf und lächelte entschuldigend. "Verzeih!", bat er den Stepahan und fügte erklärend hinzu: "Ich musste an meine letzte Reise nach Draustein denken, zur Hochzeit meiner Schwester auf dem Turnier." Er seufzte.
"Hätte damals jemand von einem bevorstehenden Krieg in Albernia gesprochen, wir hätten ihn ausgelacht! Doch seither kamen zwei über unsere Heimat und so viele jener, die mit uns feierten, leben heute nicht mehr. Die damals glückstrahlende Braut hat durch Orkenhand ihren Erstgeborenen verloren, der Krieg gegen die Nordmarken nahm ihr erst den Zweitgeborenen, von dem sie nicht weiß, ob und wo er noch lebt. Dann den Mann, den sie seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen hat und sprechen konnte. Und nun nahm ihr der Friedensschluss Land und Titel..." Die Augen halb zugekniffen spähte er den Weg entlang.
"Während ich euch nach Draustein begleite, gibt es für sie keine Heimkehr", setzte er leise hinzu. Und er fragte sich insgeheim, ob es richtig gewesen war, dem Ruf 'des Löwen' zu folgen. Auch wenn Rahjalyn ihn in seiner Entscheidung nicht nur bestärkt, sondern ihn regelrecht dazu ermuntert hatte - müsste er jetzt nicht ihr zur Seite stehen?
Rondred verstand die Gewissensnöte seines Freundes und teilte dessen Sorgen, so gut er es vermochte. Dennoch fand er nicht so gleich die rechte Antwort, um die trübselige Stimmung des Herlogan zu durchbrechen. So ritt er für einen Moment schweigend an Rhonwians Seite, um die weiteren Worte an den Gefährten erst einmal zu bedenken. "Deine Schwester ist eine starke und achtbare Frau, Rhonwian! Das Schicksal hat sie einer harten Prüfung unterworfen. Dennoch hat sie sich nicht greinend und wehklagend ihrem großen Kummer ergeben. Nicht jeder kann sich dessen rühmen und viele gute Menschen sind bereits am Leid der letzten Jahre zerbrochen, oder stehen kurz davor. Sei es der Orkeneinfall oder der Krieg gegen die Nordmarken. Ich fürchte, das beide Kriege noch viele Jahre ihre langen Schatten bis in unsere Tage werfen." Rondred versuchte, ein zuversichtliches Gesicht zu machen: "Ich glaube das Rahjalyn trotz des Verlustes ihrer beiden Kinder und der Ferne zu ihren Liebsten, ihren Frieden finden wird. Ich werde zu den Göttern beten, dass ihr Herz neu entfacht wird." Der Weiße Löwe senkte unsicher seinen Blick. Er war kein Geweihter, kein Mann dem es gelang, immer die rechten Worte zu finden. In solchen Dingen war er eher ungeschickt.
In der Tat beunruhigten Rhonwian die letzten Worte Rondreds. Doch er schob die seltsame, ja unangebrachte Formulierung auf mangelndes Geschick in solchen Dingen, das er bei seinem Freund in ähnlichem Maße vermutete, wie er es bei sich selbst kannte. Und so nickte er nur unbestimmt, um ihm für sein notdürftig in Worte gezimmertes Bemühen zu danken, hielt seine Augen dabei jedoch weiter geradeaus gerichtet. Während Rhonwians kräftiger Rappe an langem Zügel der allgemeinen Bewegung folgte, hing der Reiter erneut seinen Gedanken nach. Dabei blieb sein Blick schließlich am Rücken der vor ihnen reitenden Ritterin Eâchain hängen, ohne dass er sie tatsächlich gesehen hätte. Als plötzlich eine Krähe laut krächzend aus einem nahen Gebüsch aufstob, schreckte er auf und begann - ein, zwei Herzschläge später - laut zu lachen.
Nein, es war kein Prusten, sondern ein befreiendes und befreites Lachen, das in klarem Bariton über die Nachhut hallte. Es kam von Herzen - einem, das lange, viel zu lange Zeit bedrückt und beengt gewesen war. Mit den Augen folgte Rhonwian der in weitem Bogen davonfliegenden Krähe. Erst als sie außer Sicht war, wandte er sich noch immer lächelnd dem neben ihm reitenden Stepahan zu und bemerkte dessen fragenden Blick.
Jenen mochte immerhin beruhigen, dass keinerlei Spur von Irrsinn aus den Augen des Herlogan zu sprechen schien. Dieser verstand wohl, was Rondred verwirrt hatte, und erkannte auch, dass sein freudiger Ausbruch dessen Pferd scheu gemacht hatte.
"Verzeih", bat er aufrichtig, wenn auch in gutgelauntem Ton. Und versuchte zu erklären: "Vor wenigen Wochen wäre es wohl eher ein Nordmärker gewesen, der aus dem Gebüsch gebrochen wäre - und meine kurze Träumerei womöglich mein Tod. Aber es ist Frieden!"
Er machte eine kurze Pause, gerade so, als lauschte er dem Nachhall seiner Worte, denen er nur schwer glauben konnte. "Und welch Ironie, dass gerade eine Krähe mir seine Botin sein würde", fügte er wiederum nachdenklicher hinzu.

Auch weiter vorne konnte trotz einiger Dutzend Schritte das laute Lachen des Ritters noch gehört werden. Zusammen mit einigen Grundholden blickte sich Eâchain Arland zu den beiden letzten Reitern der Nachhut um - gerade noch rechtzeitig um die Krähe zu bemerken, die sich wie ein Vorbote des nahenden Winters über einige Hecken schwang und in Richtung Strom davonflog. Ritterin Eâchain Arland ritt neben den letzten schweigsamen Grundholden auf ihrem erdbraunen Schlachtross Dànadas. Den Tross von heimkehrenden Überlebenden begleitete sie deshalb hier als Einzige aus Birchféhn. Tatsächlich waren die wenigen Streiter der Landwehr aus Birchféhn in den Kämpfen dieses unseligen Krieges ausgeblutet.
Ihre Gedanken wanderten zu ihrem jüngeren Bruder Fhínn und den Freibauernfamilien Abelsen und Gwenliar, die seit jeher eng mit dem Rittergeschlecht der Arlands verbunden waren. Sie hoffte, dass die nordmärkischen Gerüchte um Geistererscheinungen über dem Birchgrund, die sie in Wietaun vernommen hatte, der Wahrheit entsprachen.
Für ein kurzen Moment hellte der Schalk ihre ernsten Gesichtszüge auf, als sie an die Geschichten ihrer Mutter zurückdachte. Doch dann verdüsterte sich ihre Miene als sich wieder die Sorge um Heimat und Heimgebliebene ihres Herzens bemächtigte.
‚Nur ein Lachen - nur eine Krähe’, dachte Eâchain. Ihre Gedanken schweiften ab, welch deutliches Zeichen wohl ein Rabe gewesen wäre: zu viele Tote hatte sie in den letzten Jahren gesehen, einige davon waren von ihrer Hand Golgari anempfohlen worden. Und jeder dieser Toten lastete auf Eâchain, denn sie alle waren anscheinend sinnlos gestorben; nichts weiter als Figuren auf einem Spielbrett der Mächtigen. Mühsam kämpfte Sie die Abscheu vor dem zurückliegenden Töten nieder und straffte dann die Schultern.

Eben noch hatte sie Lûran Falkraun rasch zur Vorhut reiten sehen, als der Wagenzug noch vor dem letzten Anstieg zum Halten kam; auf diesem letzten Hügel vor dem Draufall grüßte eine eindrucksvolle Eiche herüber. Auf Höhe der Vorhut sammelten sich gerade die Ritter und Edelleute und wenig später sprengten Lûran und Rhéged mit ihren Pferden den Hügel hinauf und verschwanden außer Sicht.
Eâchain wandte sich zu Rondred und Rhonwian um, und bedeutete ihnen, dass sie jetzt zur Vorhut aufschließen würde, da zwei Streiter fehlten.
Rasch trieb sie Dànadas mit einem Schnalzen an und zog den Anderthalbhänder.
Der Stepahan erwiderte mit einem kurzen Nicken der Ritterin Bescheid und sah dann beunruhigt zum Rand des Gundelwaldes hinüber und dann wieder zu Eâchain, die sich in Richtung Vorhut aufmachte. Schulterzuckend wandte er sich wieder seinem Gefährten zu, der sich ebenso sonderbar verhielt wie die Ritterin. "Krähe hin oder her!", sagte Rondred mit gespielter Gleichgültigkeit. "Ich fürchte, dass wir beide noch vor wenigen Wochen vorsichtiger gewesen wären als dieser Tage." Ein Umstand, der dem Stepahan offenbar nicht gefiel. Er wies in Richtung der davon reitenden Ritterin.
"Sonderbar, dass sie ihr Schwert gezogen hat", sagte der Stepahan nachdenklich.
Rhonwian nickte - zunächst leicht zögerlich, beendete er die Geste doch entschlossen. Er kannte Eâchain kaum, weshalb es in seinen Augen auch eine ungewöhnliche Eigenheit der Ritterin hätte sein können. Aber Rondred kannte sie gewiss recht gut und so schloss er es aus. Aber hätte sie eine Bedrohung bemerkt, hätte sie sie doch gewiss darüber in Kenntnis gesetzt. Oder nicht? Innerlich schalt er sich, dass er sich von seinen Sorgen hatte vereinnahmen lassen, anstatt aufmerksam die Umgebung zu beobachten. Der Herlogan kniff die Augen zusammen und spähte der Ritterin auf dem erdbraunen Pferd hinterher.
"Was meinst du - sollen wir ihr folgen?"
Der stämmige Weiße Löwe legte seine Stirn in Falten und sah Rhonwian ungläubig an.
"Sicher nicht!" Gab dieser entschieden zurück.
"Warum sollten wir so etwas Törichtes tun?", fragte Rondred und wandte seinen Blick wieder der Vorhut zu. "Wir sind die Nachhut, Rhonwian. Es gibt keinen Flankenschutz und keine Nachzügler. Hinter uns steht niemand mehr", erklärte er und berührte dabei mit dem Panzerhandschuh den eisernen Knauf seines am Sattel befestigten Zweihandschwerts.
Rhonwian nickte. Selbstverständlich hatte der Stepahan Recht - jede andere Antwort hätte ihn wahrhaft überrascht.
Rondred wartete einen Augenblick, um dann nach einem wiederholten Blick zum Gundelwald hinzuzufügen: "Auch wenn ich nicht glaube, dass wir hier in Gefahr sind, oder in Bedrängnis geraten, haben wir doch eine Aufgabe zu erfüllen. Die Vorhut kann momentan sicherer nicht sein. Unsere Schwachstelle wäre bei einem Überfall sicher die Mitte und das Trossende. Außerdem wird es bald Nacht", wusste Rondred und sah mit nachdenklicher Miene zu Rhonwian.
"Einem so weitgereister Kämpen, sind solche Dinge aber allemal bekannt", lächelte Rondred schief. "Aber vielleicht hast du ja gute Gründe ihr zu Folgen und dich ebenfalls der Vorhut anzuschließen!? Es gibt gewiss schönere Gesellschaften als die meine, in diesen Reihen."
Das fing ja gut an! Ein Schmunzeln glitt von Rondred unbemerkt über das Gesicht des Jüngeren. Erst als es verschwunden war, wandte sich Rhonwian mit hochgezogenen Augenbrauen dem anderen Ritter zu. "Hättest du das nicht früher sagen können?!", fragte er übertrieben vorwurfsvoll. "Zum Beispiel schon in Abilacht!?" Er schüttelte scheinbar betrübt den Kopf. Dann lachte er und seine Augen suchten erneut die davon galoppierende Ritterin - auch er wollte sich ungern die Reaktion der Vorhut entgehen lassen!
Rondred war innerlich nicht unzufrieden. Jetzt hatte er endlich mit des Zufalls Hilfe, in Gestalt eines Raben und einer ansehnlichen Maid, den Trübsinn seines Gefährten vertrieben. "Unsere Gesellschaft wählen wir stets selbst. Du kanntest mich schon vor Abilacht!", spöttelte Rondred. So leicht würde er sich durch dieses aufgesetzte Schauspiel nicht beirren lassen. Aber für den Augenblick wollte es der Weiße Löwe dabei bewenden lassen. Dennoch gab es da noch etwas, was er gerne in Erfahrung bringen wollte: "Sag mal Rhonwian, wartet nicht irgendwo eine Frau auf Dich?"
Ohne den Blick von der Vorhut zu nehmen, schüttelte Rhonwian den Kopf und erklärte: "Nein. Es gab ein Eheversprechen, als ich noch ein Kind war. Aber sie starb wenige Jahre später, ohne dass ich sie je getroffen hätte." Er hob die Schultern und sah Rondred an. "Und wie ist es bei dir?"
"Bei mir?", wiederholte der Stepahan überrascht.
"Im Grunde gibt es Keine, die auf mich wartet. Aber das ist jetzt auch nicht von Belang", erzählte er unbeholfen. Offensichtlich wollte er gar nicht so viel über sich selbst erzählen.
"Wie ist sie gestorben?", fragte Rondred weiter. Mit gerunzelter Stirn lauschte Rhonwian den ausweichenden Worten Rondreds. "Im Grunde gibt es Keine", klang ganz danach, als wäre da zumindest irgendetwas, wenn schon nicht irgendeine, im Busch. Offenbar wollte sein Freund nicht recht mit der Sprache heraus, doch es würde gewiss noch Zeit und Gelegenheit genug geben, ihn doch noch zum Reden zu bringen! Jetzt allerdings wollte dieser offensichtlich das Thema von sich weglenken. Gut denn!
Rhonwian wollte gerade zu einer Antwort auf Rondreds Frage ansetzen, als Unruhe in den Tross kam und von der Vorhut ein Warnruf ertönte. Ein aufgeregtes Stimmengewirr legte sich über den Tross. Er ahnte, wer diese verursacht hatte und sein Blick suchte erneut Eâchain. Und tatsächlich, offenbar hatte die Vorhut die heran galoppierende Streiterin mit ihrem gezogenen Schwert entdeckt und auf die scheinbare Gefahr reagiert. Der Herlogan sah deshalb vorerst keine Veranlassung zu handeln. Er fühlte Mitleid für die sicher gutmeinende, aber übereifrige Ritterin in sich aufsteigen - gewiss würde dies nicht ohne Folgen für sie bleiben. Leicht schüttelte er bedauernd und auch ein wenig verwundert den Kopf. Was hatte Eâchain bloß geritten, dass sie sich so verhielt? Hatte sie vielleicht jemanden beeindrucken wollen - Rondred vielleicht? Rhonwian sah den neben ihm reitenden Ritter prüfend an. War das vielleicht die Erklärung für seine Reaktion eben?


~*~


Arnvald sah hinaus in die Dämmerung. Schon bald würde die Praiosscheibe dem Madamal Platz machen. Der Löwenrat wollte mit Arlan über die nächsten Schritte sprechen. Mit suchendem Blick schweiften seine Augen umher und bemerkten, wie sich Eâchain von der Nachhut löste: Mit gezogener Waffe ritt sie geradewegs auf die Vorhut zu. Arnvalds Herz begann schneller zu schlagen, seine Haare an Armen und Nacken sträubten sich und seine rechte Hand legte sich fest um den Griff seiner schweren Streitaxt. Mit erfahrenem Blick suchte er nach der aufziehenden Gefahr. Noch wollte er keinen Alarm geben, um nicht alle in Aufruhr zu versetzen. Sollte der Tross doch noch in einen Hinterhalt geraten, so kurz vor den Toren Drausteins? Oh Rondra, waren es nicht schon genug Prüfungen? Gerade jetzt, wo zwei seiner besten Ritter den Tross verlassen hatten. "Die Schwerter zieht!", ertönte wenige Herzschläge später der eindringliche Warnruf von Turon Taladan über die Köpfe der Vorhut hinweg und rief diese zu den Waffen. "Schützt Gräfin und Baron!", rief ein weiterer Streiter.
Wie von selbst legte sich Arlans Rechte um den Griff seiner Waffe und zog sie mit einem Ruck aus der Schwertscheide. Sein Herz schlug wie wild in seiner Brust und während er forschend nach den ersten Angreifern suchte.
Auch Morgan hatte seine Waffe gezogen, die er neben sich am Kutschbock befestigt hatte. "Thalania runter vom Bock und versteck dich unter dem Wagen!" Der Ritter sprang mit Schild und Schwert vom Fuhrwerk und sah erwartungsvoll zur Vorhut, zum Gundelwald und zur Eiche hinter ihnen. Thalania tat, wie ihr geheißen und sprang flink vom Bock herunter - unter den Wagen. Doch dort kauerte sie sich keineswegs weinend zusammen, sondern blickte verstohlen neugierig unter dem Wagen umher, um die Gefahr ausfindig zu machen. Vielleicht konnte sie so den Kämpen helfen, wenn sie sie warnen konnte, dachte sie stumm.
Vor ihr bohrte sich urplötzlich eine mittelgroße Eisenklinge in den nasskalten Boden.
"Hier nimm!", hörte sie den Ritter sagen. Aufgeregt griff Thalania nach dem Heft des Kurzschwerts. Es lag gut in ihrer Hand. Seine Klinge sah scharf und gefährlich aus. "Ein Stepahan stirbt mit dem Schwert in der Hand! Für eine ‘vom Draustein‘ reicht aber auch schon ein einfaches Kurzschwert", lachte Morgan. Dann lauschte er dem Wind. Doch er hörte weder das Knarzen von Bögen noch das Sirren tödlicher Pfeile. Mit zusammengekniffenen Augen bemaß er das Gelände.
Arnvald Wellenstein blickte sofort zu Turon, als dieser den Warnruf gegeben hatte.
Ohne Nachzudenken griff nun auch der Schwarze Fels nach seiner Axt.
"Euer Hochgeboren, ich werde Ritterin Eâchain entgegen reiten."
"Tut dies", sagte Arlan zustimmend und zog sich anschließend mit der Schildhand die Kettenhaube über den ungeschützten Kopf, um dann seinerseits weiter den im Zwielicht liegenden Waldrand zu beobachten.
Arnvald zügelte Rondrikan vor seinem Schwager Turon. "Wo steht der Feind?", fragte er den Taladan. Noch immer konnte er keinen Angreifer auf dem schmalen Leuenstieg ausmachen.
"Das weiß ich im Augenblick noch nicht. Aber vielleicht Ritterin Eâchain!?", gab dieser besorgt wieder und deutete mit seinem Schwert in Richtung der Nachhut. Von Turons Standpunkt aus war der gesamte Tross zu sehen, der sich auf einer Viertelmeile den sanften Hügelkamm hinauf schlängelte. "Ich werde Eâchain entgegen reiten! Achte auf mein Zeichen!" Turon wusste, dass ‘die Rechte Pranke des Löwen‘ zum Kampf rufen, oder sogleich Entwarnung geben würde, so wie er es in den letzten Götterläufen stets getan hatte.
Als der Ruf von Turon Taladan erklang, zügelte Eâchain ihr Schlachtross Dànadas, da sie die einzige Ritterin an der Flanke des Trosses war. Sie schwenkte den Braunen auch zu beiden Wegrändern, um mögliche Bedrohungen auszumachen; dabei gab sie sich Mühe, den aufgeregt tänzelnden Teshkaler zu bändigen.
Der Steinvasall gab Rondrikan die Sporen und ritt der Ritterin entgegen. Mit prüfendem Blick kontrollierte er die Bereitschaft der wenigen Kämpen, die ihnen noch verblieben waren. Morgan Kerkall hob seinen Schwertgriff in die Höhe und grüßte Arnvald: "Für Rondra, und Draustein!" Sein Waffenbruder erwiderte den Gruß und hielt dann auf die Ritterin zu.
Eâchain trieb den Teshkaler einige Schritte rückwärts, um Arnvald Platz zu machen, als sie ihn kommen sah.
Arnvald war überrascht mit anzusehen, dass Eâchain anhielt und ihr Ross vom Weg herunter führte. Kurz bevor er die Ritterin erreichte, zügelte er Rondrikan, sodass sein erfahrenes Schlachtross die letzten Schritte auf Eâchain zutrabte.
"Ritterin Eâchain, was ist geschehen?", ertönte die tiefe, sonore Stimme des alten Recken.
"Nichts von Belang bei der Nachhut, mein Herr! Allerdings sah ich nachdem der Halt befohlen war, die Flanke des Trosses ungedeckt zurückbleiben als Herr Lûran und Herr Rhéged davon ritten."
Allmählich dämmerte es ihr, dass in der Vorhut das Ziehen ihres Schwerts als unmittelbare Gefahr gedeutet worden war: "Wenn ich fehlgegangen bin, so nehmt meine Entschuldigung an - es lag nicht in meiner Absicht, so kurz vor Draustein für Aufregung zu sorgen. Meine Vorsicht galt alleine den Gerüchten, die wir auf dem Weg hierher über Räuber und zwielichtiges Volk vernommen haben."
Wäre dieses einer gewöhnlichen Schildmaid passiert, hätte er diese sogleich hier und jetzt mit geharnischten Worten gemaßregelt. Doch nicht so die verdiente Ritterin. "Wie immer zeigst du ein geübtes Auge, und denkst an die, die es zu schützen gilt." Arnvald atmete tief durch.
"Für Aufregung hast du gesorgt, fürwahr. Wir dachten schon, dass so kurz vor dem Ende der beschwerlichen Reise zwielichtiges Gesindel unseren Weg kreuzt. Aber seien wir froh, dass dem nicht so ist." Arnvald drehte sich auf seinem Ross und gab der Vorhut ein Handzeichen zur Entwarnung.
"Lieber einmal zu viel in Aufregung, als im entscheidenden Moment nicht bereit. Lass uns nun zur Vorhut reiten." Arnvald gab seinem Ross die Sporen.