Gedenktag in Unkengrund (1045) Teil 08: Totengedenken

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Chronik:

2. Ingerimm 1045, ca. zweite Phexstunde


Totengedenken

auf dem Festplatz (späte Stunde)

Nachdem wieder etwas Ruhe eingekehrt war, trat Leanna Vialigh im Schein einer Fackel, welche von ihrer Knappin gehalten wurde, wieder vor die Versammelten. An ihrer Seite der Schulze Unkengrunds, ein untersetzter Mann mit Glatzkopf, der ein Buch bei sich trug. Im Fackellicht glänzten unzählige Schweißperlen auf seiner Stirn. Zwei Männer aus Unkengrund schoben derweil einen großen Handkarren heran, auf dessen Ladefläche eine Vielzahl aus Holz gebastelter Schwimmkerzen gestapelt lagen.

„Nun ist es Zeit. Nun wollen wir derer gedenken, die nicht mehr unter uns weilen, da ihr Leben heute vor sechs Götterläufen endete oder aber sich ihr Leben ab diesem Zeitpunkt unweigerlich dem Ende zuneigte. Wir wollen ihre Namen nennen und dem Gemhar für jeden von ihnen ein Licht anempfehlen. Auf dass wir die Erinnerung an sie immer in uns tragen und ihrer nicht vergessen. Diejenigen, die ein Eid oder die Pflicht an eine Waffe und an das Wort ihrer Hauptleute band, starben, als sich Bruder gegen Bruder wandte, sich Verbündete, Nachbarn, Freunde plötzlich in einem verwirrenden Scharmützel gegenüber standen. Diejenigen, die mutig Heim und Herd verteidigten, starben, als die Söldner unter Albio Salzhand wüteten, raubten, zerstörten, brannten und in ihrem Wahn niederschlugen, wer sich ihnen in den Weg stellte. Was auch immer es war, was diese Männer und Frauen aus unserer Mitte riss - Boron, der unergründliche Herr der letzten Dinge, allein kennt ihre allerletzten Gedanken.” Leanna Vialigh ließ ihren Worten Raum. Dabei blickte die Edle einige Herzschläge lang bewusst zu Boden und es schien, dass sie sich für einen kurzen Moment eigene traurige Gedanken erlaubte, ehe sie stolz und gefasst wieder den Kopf hob. “Herr Edric, bitte, so waltet eures Amtes.“ Für einen kurzen Augenblick legte die Edle eine Hand auf die Schulter ihres treuen Dienstmannen ab, bevor sie einen Schritt zurücktrat und ihn sprechen ließ.

Der Geheißene wischte sich noch einmal über die schwitzige hohe Stirn, bevor er begann, mit getragener Stimme eine lange Reihe von Namen zu verlesen, und, falls bekannt, die Umstände des Todes desjenigen. Dabei wurde für jeden Namen eine der tellerartigen Gebilde aus dem Wagen entnommen und der Docht eines mittig darauf aufgepfropften Fettkegels entzündet. Das kleine Gebilde aus Rinde, Brett oder zurechtgesägtem Totholz wurde abschließend von Familienmitgliedern des Toten am Gemhar zu Wasser gelassen. So trieb das brennende Licht mit dem Wellengang durch die schwarze Nacht davon. Begleitet vom Klang einer leisen Flötenweise.

Als der Gemahl der Gastgeberin genannt wurde - Jarwain von Tannengrund - kam der jüngster Sohn Leanna Vialighs nach vorn, um das entzündete Licht entgegenzunehmen. Da seine ältere Schwester Talwen, die Erbin Unkengrunds, ihre Duellverletzung noch von der Heilerin versorgen ließ, war Callean die Ehre zuteil geworden, das Licht für den Vater auf dem Gemhar auszusetzen. Der Knappe des Ritters Johril Dragentrutz versah diesen Dienst mit Würde und aller Ernsthaftigkeit, die man von einem 15-jährigen durchaus erwarten konnte, obwohl Calleans Erinnerungen an seinen Vater, welcher die rechte Hand der Mutter auf Broch Glennbarr gewesen war, nur auf die frühe Kindheit bezogen war. Genaugenommen hatte gerade er seinen stillen Vater kaum gekannt. Der Tannengrund war während der Eroberung Broch Glennbarrs im Zuge des Verrats von Haus Krähenfels in die Gefangenschaft der Nostrischen Söldner geraten, da war Callean bereits schon zwei Götterläufe lang zur Ausbildung im Hause Heckendorn gewesen. Die Nachricht vom Tod des Vaters hatte den Jungen mit den Nachrichten zum Verlauf der Fehde auf Burg Bredenhag erreicht, wo er unter der Obhut der Münzmeisterin weilte, weil sein Pagenvater Jaran von Heckendorn gegen den Reichserzverräter Haffax in den Schwarzen Landen focht. Wie genau es zum Tod seines Vaters gekommen war, hatte zwar auch einst in der Fanfare gestanden, doch war jetzt, sechs Götterläufe später, nur noch wenigen das Drama in allen Details bekannt. Damals war die Edle von Unkengrund vom Kanzler Bredenhags beauftragt worden, in der Baronie Tommeldomm den Widerstand zu organisieren. Als die Nostrischen Söldner dann vor den Toren des Hauptorts der Baronie, Tommeldomm, standen und die Öffnung der Tore mit dem Messer an der Kehle Jarwain von Tannengrunds erzwingen wollten, hatte Leanna Vialigh, die zu dieser Zeit die Verteidigung der Siedlung befehligte, sich für das Leben der Tommeldommer Dorfbewohner und gegen das Leben ihres eigenen Mannes entschieden. Vorerst verstört und entrüstet, wie alle, die im Folgenden davon gehört hatten, hatte Callean jedoch schon bald akzeptiert und verstanden, dass seine Mutter als Befehlshaberin damals eine harte Entscheidung hatte fällen müssen. Und vor dem Hintergrund der Notwendigkeiten hatte Callean auch gelernt, mit dem frühen Tod seines Vaters umzugehen. Er bedauerte die Umständen, die dazu geführt hatten und diese unsägliche Fehde an sich, aber nicht die Entscheidung seiner Mutter. Denn sie war Ritterin. Und als Ritter hatte man nicht nur schöne Entscheidungen zu fällen.

Nur wer sich erinnerte, dass der Tannengrund durch das Wort seiner eigenen Gemahlin umgekommen war, hatte eine Ahnung davon, warum sich Gastgeberin Leanna Vialigh bei der Namensnennung ihres Mannes kurz zu einem stummen Kriegergruß die Faust aufs Herz legte, und wie es aussah, mit geschlossenen Augen, verbeugte.

Als ihr Dienstmann das Buch zuklappte, trat Leanna Vialigh wieder an seine Seite.

“Ich weiß, dass diese Liste längst keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Zumal uns auch die Namen derjenigen Gefallenen, die unter dem Wappen von Krähenfels und Riunad kämpften, nicht bekannt sind. Deshalb lade ich jeden der hier Anwesenden ein, sie gerne zu erweitern - mit egal welchen Worten.“

Die Edle von Unkengrund blickte anschließend in Richtung ihrer beiden Nachbarn, des Herrn Caran von Krähenfels und Baron Wulfric ui Riunad. Sie ließ es den beiden Hausoberhäuptern offen, ob sie eigene Worte sprechen wollten. Angebracht fand sie dies allemal, aber sie zwang niemanden, sondern konnte nur hoffen, dass beide sich von selbst einbrachten. Niemand von ihnen dreien hatte diese Schlacht selbst miterlebt, dennoch galt es zu tun, was man als Oberhaupt tun musste: ein Vorbild an Edelmut und praiosgefälliger Ordnung sein.

Bei den Worten von Wohlgeboren Vialigh hatte Junker Caran von Krähenfels zum Baron von Gemhar gesehen, der nicht weit von ihm entfernt stand. Allerdings regte sich dieser gegenwärtig nicht. Daher sah Caran mit einem stummen Gruß zur Gastgeberin und nickte ebenso seinem Gefolge zu. Ohne ein Wort zu verschwenden machte er sich schließlich mit gesetzten Schritten auf den Weg zu dieser, um nun seinerseits das Wort zu ergreifen...


auf dem Schlachtfeld, während des Festessens (Talwen Vialigh und Ioric von Krähenfels - Aal und Krähe)

Es war spät geworden an den Ufern des Gemhar und mit dem Schwinden des Lichts war die milde Abendluft merklich abgekühlt. Feuerschalen und mehrere große Leuchtfeuer wärmten und erhellten die Tafeln der Festgesellschaft, welche in der nächtlichen Stille noch weit die Flussauen hinab zu hören sein musste. Ioric von Krähenfels war zu seinem Dienstherren und dessen Gemahlin zurückgekehrt, welcher mit Caran von Krähenfels und dessen Schwester Isida beisammen saß. Bestrebt sich nach der Versorgung seiner Verletzungen erneut dem versammelten Adel zu zeigen, gleichwohl aber auch froh, nicht alleine mit seinen Gedanken in der Hütte der Heilerin verweilen zu müssen, verbrachte er die nächsten Stunden mit seinen Pflichten als Dienstritter, beteiligte sich zurückhaltend an den Tischgesprächen und sprach, ebenfalls zurückhaltend, dem dargebotenen Festmahl und den es begleitenden Getränken zu. Während der Haushofmeister von Burg Eichengrund für gewöhnlich derartige Ereignisse genoss, in den Winkelzügen und Details der Etikette und des dort stattfindenden Austauschs aufging, fiel es ihm dieses Mal schwer, die Feierlichkeiten zu genießen. Zu viel war geschehen, zu viel schwebte in seinem Kopf umher und ließ sich nicht einfach auf einen späteren Zeitpunkt verschieben: Erinnerungen - An die Umstände, unter welchen er das letzte Mal auf diesen Wiesen stand, jener Tag, der weitaus länger in seinem Leben nachhallte als er das damals für möglich gehalten hätte. Das Duell - Wenngleich unerwartet und sieglos, hatte es ihm doch die Gelegenheit gegeben, für seine Ehre einzustehen, etwas, was ihm die stumm urteilenden Blicke und gemurmelten Verwünschungen verwehrten. Das anschließend in der kleinen Heilerkate Geschehene - mit all den Fragen, die dies aufwarf.

Ioric ließ den Blick über die in der Nacht schwarz glänzenden Wasser jenseits des Feuerscheins gleiten und erst der vorwurfsvollen Blick, welchen ihm die ihm gegenübersitzende Isida von Krähenfels zuwarf, ließ ihn gewahr werden, dass er wohl ihre letzten, an ihn gerichteten Worte versäumt hatte. In einer stummen Bitte um Vergebung senkte er betreten den Blick. “Vergib mir. Ich - ”, kurz wanderte sein Blick zu seinem Vetter und seinem Herrn Brendan Aldewen, welchen zusammen mit dessen Gemahlin, Sinjer Albarung, und der anderen Dienstritterin auf Burg Eichengrund, Leanna Widra, in ein leises Gespräch vertieft waren, “- Ich werde mir ein wenig die Beine vertreten… und der Toten gedenken.” Er nickte kurz, dann erhob er sich und verabschiedete sich mit einer Verbeugung.

Kurz erwog er, seine Schritte zum Ufer des Flusses zu lenken, entschied dann aber, dass er die Ruhe, welche dem Herren Boron wohlgefällig war, wohl eher anderswo finden würde. So wandte er sich dem Karrenweg zur Burg zu und dorthin, wo er vor einem halben Jahrzwölft gestritten hatte.

Am Rande des Festplatzes griff er sich kurzerhand eine der dort aufgehängten Laternen und beschritt dann langsam den Pfad zu dem in Dunkelheit liegenden Schlachtfeld.

Die kühle Nachtluft und die Bewegung brachten etwas Klarheit in seinen Geist und so gelang es ihm tatsächlich, als er den Weg verließ, um vorsichtigen Schrittes über die Auwiesen zu gehen, seine Gedanken zu den Gefallenen zu lenken. Er selbst hatte an jenem Tag kein Leben genommen, aber es fiel ihm nicht schwer, sich an diejenigen zu erinnern, welche jener Tage ihr Leben ließen. Schweigend suchte er in seinen Erinnerungen, gewährte jedem Toten, dem er sich entsann einen Moment stummen Gedenken. Dann tauchte ein Name in seinem Geist auf - Ellan, der Junge der Heilerin. Getötet von dem Gesindel dieses zwölfmal verfluchten Salzhand. Wer im Kampf eine Waffe ergriff, der musste sich der Möglichkeit stellen im Kampf zu fallen, aber diesen Mordbrennenden Söldlingen war es zuzutrauen, dass sie ihn hinterrücks und unbewaffnet niedergemacht hatten. Ein bitterer Zug hatte sich seiner bemächtigt: er hasste es, sich mit diesem tollwütigen Haufen je gemein gemacht zu haben, viel früher hätte seine Tante das Richtige tun und den Kopf dieser ehrlosen Ratte nehmen sollen.

Im Lichtschein schälte sich irgendwann ein hölzerner Gatterzaun aus der Dunkelheit. Iorics Blick fiel auf die großen dunklen Schemen einer Gruppe schlafender Rinder, die dahinter friedlich im Gras lagen. Keines der Tiere interessierte sich für den nächtlichen Besucher. Ioric stellte die Laterne am Zaun ab und erklomm kurzerhand den obersten Balken, wo er sich mit einem Seufzer niederließ. Mit einem langen Atemzug kämpfte er den aufsteigenden Ärger nieder: er war hierher gekommen, um der Toten zu gedenken und nicht Vergangenes zu beklagen. Die Geräusche des Festplatzes waren nur noch leise zu vernehmen und wenn er sich konzentrierte, glaubte er, das Rauschen des Flusses zu hören, während er in Gedanken versunken in die Nacht starrte.

Jenseits der Viehweide begann irgendwann in der Schwärze der Wald, während ein fahles Licht in der Ferne auf dem Gemhar den Turm von Graugard anzeigte, welcher auf Winhaller Seite inmitten einer Insel im Fluss lag. Mehrere besser sichtbare Lichtpunkte auf der entgegengesetzten Seite zeigten derweil den Weg hinauf zum Broch und die Beleuchtung der kleinen Burg an. Man konnte den Verlauf von Palisade, oberer Wehrmauer und die Höhe des Turmes wahrnehmen. Über allem spannte sich das Sternenzelt des Herrn Phex mit seinen unzähligen Lichtern am Himmel und eine Ruhe, wie sei nur die Nacht bot.

In die Ruhe hinein mischte sich das Hufgetrappel zweier Pferde, die sich näherten. Alsbald kamen sie aus der Dunkelheit geritten. Einer der gerüsteten Reiter trug das Aalwappen auf der Brust, der andere war eine Frau im Wappenrock der Grenzwacht. Auf einen Wink der Reiterin - woraufhin deutlich wurde, wer das Kommando hatte - parierten beide ihre Tiere und kamen nur wenige Schritt vor dem Krähenfels zum Stehen.

Dieser war von seinem Sitzplatz hinabgeglitten, als sich die Reiter näherten und sah den sich Nähernden entspannt entgegen, auch, wenn eine gewisse Vorsicht in seinem Stand zu erkennen war.

“Bei Farindel, ihr seid das, Krähenfels!”, hörte der Haushofmeister Eichengrunds die ihm bekannte Stimme Talwen Vialighs, in welcher der Anflug eines Lächelns mitschwang. “Wir hatten uns schon gefragt, wer sich hier draußen wohl um diese Zeit aufhält. Ihr habt Glück, dass euch eure Lampe kenntlich macht. Wir hielten euch nämlich kurzzeitig für einen ungebetenen Gast.” Mit einem kurzen Blick bemerkte er, dass sie zwar keine Bandage mehr trug, aber ihre Zügel beide in der Linken führte, während ihr Schwertarm durch fehlende Beteiligung glänzte.

“Die Zwölfe mit euch, Hohe Dame Vialigh.” Mit einer angedeuteten Verbeugung erkaufte sich Ioric einen weiteren Moment, um die höfische Maske anzulegen, die seine Gedanken und Gefühle hinter einem freundlich-neutralen Ausdruck verbarg. “Ich habe mich lediglich ein wenig zurückgezogen, um der Toten zu gedenken." Kurz zeigte sich der Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht. “Zuvor war mir dies - aufgrund der Umstände - verwehrt geblieben.”

“Da geht es mir ähnlich," entgegnete die Vialigh wahrheitsgetreu, nebenbei erwiderte sie sein Lächeln. „Ist es denn gestattet, dass ich mich eurer Andacht anschließe? Wenn ja, würde ich dies gerne tun. - Natürlich nur, falls ihr nichts dagegen habt.“

Für einen Augenblick war Verwirrungen im Ausdruck des Krähenfelsers zu erkennen, er fing sich aber schnell wieder. “Sicherlich.” Er maß den Bewaffneten mit einem kurzen Blick, ehe er einen Schritt auf die Berittenen zutrat und die Erbin von Unkengrund aufmerksam musterte. “Niemals würde ich mir anmaßen, euch als Gast auf eurem Land etwas vorzuschreiben. Eure Gesellschaft ist aber -”, er zögerte für einen winzigen Augenblick,” - willkommen.”

Sie verzog keine Miene, doch ihre Worte der Erwiderung klangen spöttisch: “Mein Land wird es sein, wenn dereinst meine Mutter zu Boron geht.” Dabei schwang sich Talwen aus dem Sattel, was wegen ihrer Verletzung nicht so elegant wie sonst aussah, schlug ungeachtet dieser Tatsache die Zügel über den Pferdekopf nach vorn und klopfte dem Ross den muskulösen Hals. “Und auch nur dann, wenn dem Grafen das Haus Vialigh in Unkengrund weiterhin wichtig ist,” erklärte sie abschließend recht nüchtern, bevor sie sich an ihren Begleiter wandte. “Ruban, du reitest allein weiter. Ich werde dem hohen Herrn von Krähenfels Gesellschaft leisten und ihn dann zum Festplatz zurückbegleiten. Ay!”

Der so geheißene Soldat nickte. Dann grüßte er die beiden Ritter mit der Faust zur Brust und ritt im Trab davon. Nur wenige Herzschläge später war er in der Dunkelheit verschwunden.

Talwen sah dem Gefolgsmann ihrer Mutter nach, wie er entlang des Gatters entschwand.

Auch Ioric sah dem sich entfernenden Reiter nach, bis die Dunkelheit ihn verschluckte.

Dann waren Ross und Reiter fort und erst jetzt wandte die Ritterin sich ihrem Gegenüber zu. “Ihr hättet auch Nein sagen können. Das hätte ich akzeptiert.”

Erst jetzt gestattete Ioric der Anspannung, welche diese Begegnung in ihm ausgelöst hatte, sich ein wenig zu lösen. Sie hatte ihn in einem unerwarteten Moment angetroffen. Für einen Herzschlag gewährte er den widerstreitenden Empfindungen Raum, ließ sie zu, ehe er sie zähmte und beiseite schob. Mit einem warmen Lächeln wandte er sich Talwen zu. “Und was an meinem bisherigen Verhalten lässt euch glauben, dass ich so etwas tun würde?” fragte er sanft.

“Um ehrlich zu sein, ich hatte darauf spekuliert, dass ihr einverstanden seid,” gab sie lächelnd als Antwort und führte ihr Pferd zum Gatter, um die Zügel einmal locker um das Holz zu schlingen. “Immerhin haben wir das Totengedenken gemeinsam verpasst. Wegen der Umstände,” erklärte sie, wobei sie das Wort betonte, gleich ihm zuvor. “Und vielleicht wäre es deshalb schön, wenn wir auch das Gedenken zusammen nachholen.”

Ioric nickte langsam. “Ich habe mich recht eigenmächtig gegen das Flussufer und für das Schlachtfeld entschieden, ich hoffe, ich habe euch keinen Ärger bereitet.” Nachdenklich sah er in die Finsternis.

Neben ihm schüttelte Talwen lachend den Kopf. “Das fragt ihr euch aber recht spät.“ Seine Scherze fand sie erfrischend. „Wisst ihr, ich könnte mir vorstellen, es ist vielleicht schöner in Gesellschaft zu beten, als allein.”

“Eure Gesellschaft ist mir willkommen.” Er zögerte kurz. ”Mir ist vorhin gewahr geworden, ich habe vermutlich viele der Toten, denen heute gedacht wird, gesehen und für mich sind sie selten mehr als ein Gesicht - wenn überhaupt." Er warf Talwen einen Seitenblick zu. “Ihr habt sie nicht gesehen, aber für euch sind sie viel mehr - ganz gleich, was ihr über euer Verhältnis zu diesen Ländereien sagen mögt.”

“Ich weiß nicht, ob sie so viel für mich sind, wie ihr das annehmt,” entgegnete Talwen. “Ihr Verlust ist für mich nur in wenigen Fällen greifbar, denn ich kenne tatsächlich auch nur wenige. Meine Mutter empfindet da sicher ganz anders.“ Wie fast immer, wenn sie über ihre Mutter sprach, mischte sich auch jetzt Widerwillen und Ärgernis in ihre Stimme. „Sie hat ihr ganz eigenes Verhältnis zu diesen Ländereien, kennt hier beinahe jeden und liebt diesen Flecken, diese Burg, diese Ufer, dieses Tommeldomm, es gibt für sie nichts anderes.” Bevor sie noch mehr sagte und sich damit selbst nur bewies, wie dünnhäutig sie in Bezug auf ihre Mutter geworden war, hielt die Ritterin in ihrer aufkeimenden Wut inne und sah Ioric musternd an. “Hm, wollt ihr ein weiteres meiner Geheimnisse mit mir teilen?”

Ioric hielt inne, sah sie einen Augenblick wortlos an. “Immer”, antwortete er dann leise und schluckte.

Sie trat näher an ihn heran, fasste seinen Blick mit ihren Augen und verwarf den Zweifel, der sie mahnen wollte. “Die Wahrheit ist, ich brauche dieses Lehen nicht zu meinem Glück,” erklärte sie mit gesenkter Stimme, als besäße sie am Ende doch Angst, dass außer ihm noch andere Ohren dies hören würden. “Ich denke, ich könnte den Heckenlanden als Bannerherrin besser dienen, als ich als es als Herrin von Broch Glennbarr je im Stande wäre. Behaltet dies aber bitte für euch!”

Kurz schien Ioric empört, fast verletzt ob der Ermahnung. Dann überwog das Erstaunen über das Gehörte und dessen Implikationen, sowie das Wissen um das unerhörte Maß an Vertrauen, das sie ihm erwies. Er blinzelte. “Ihr…Ihr wollt euer Erbe ausschlagen?” Obwohl der Unglaube in seinem Blick verblieb, war sein Tonfall doch vor allem nachdenklich. “Seid nicht naiv, eine Zurückweisung der euch zugedachten Rolle würde nur die Frage aufwerfen, ob ihr für die Position, die ihr anstrebt, geeignet seid.” Er zuckte mit den Schultern. “Nichts verpflichtet euch, dieses Lehen zu führen. Bestellt einen Verwalter und nehmt euch ein Turmzimmer auf dem Madastein.” Nachdenklich wandte er den Blick ab, dann musste er grinsen. “Mal ganz davon abgesehen, dass ihr die Position des Familienoberhaupts an euren Bruder abgeben würdet - ein Vergehen, für das Generationen von Vialighs das Nirgendmeer queren würden, um euch heimzusuchen.” Ertappt löschte er sein Grinsen, fügte leise hinzu: “Verzeiht.”

Irgendetwas in seinen Worten traf offensichtlich direkt in eine offene Wunde Talwens und so verengten sich ihre Augen, als sie den Krähenfels kritisch betrachtete. „Warum sollte ich eurer Meinung nach nicht Bannerherrin und Familienoberhaupt gleichzeitig sein können, wollt ihr mir das erklären?“

Ioric hob die Hand in einer beschwichtigenden Geste. “Für gewöhnlich fällt diese Position dem Familienmitglied mit dem höchsten Titel zu…” Er zuckte mit den Schultern. “Ich sage nicht, dass sich etwas gegenseitig ausschließt, im Gegenteil, warum glaubt ihr wählen zu müssen?”

Sie schüttelte den Kopf. „Wählen? Ich? Herr Ioric, ihr habt da etwas Grundlegendes missverstanden, fürchte ich. Ich kann nicht wählen! Nicht, wenn es nach dem geht, was man unter den Meinen von mir erwartet. Sicherlich, der Gedanke ist verlockend schön, erst Schildmeisterin, dann später ein Mitglied des Grünen Rates, am Ende sogar Bannerfrau zu sein und als diese dem Grafenhof nur durch genau dieses Amt verpflichtet. Doch ich weiß, dass es an mir ist, meiner Mutter nachzufolgen. Nicht, weil ich es so gerne möchte, oh bitte,” verächtlich lachte sie auf, „sondern, weil ich - bei Farindel! - der Vogel im goldenen Käfig bin, von dem ausgerechnet ihr immer redet!“ Brummte sie unzufrieden, der anfänglichen Heiterkeit wie auch ihres Lächelns beraubt. „Und da ihr es doch mögt, wenn ich weiß, was ich will,” fuhr sie sogleich fort und ließ ihrem Gegenüber keine Zeit für eine Erwiderung, woraufhin dieser den bereits geöffneten Mund wieder schloss. ”Ich möchte liebend gerne, dass wir jetzt über erbaulichere Dinge sprechen, als über meine zukünftigen Pflichten, die mir am Bein hängen wie ein Klotz,“ erklärte sie wahrheitsgemäß und kämpfte ihre Unzufriedenheit wie auch den empfundenen Ärger mit einem tiefen Atemzug nieder. „Ich weihte euch in meinen Wunschtraum ein, weil ich nicht möchte, dass ihr von falschen Tatsachen ausgeht. Unkengrund bedeutet mir nichts. Die mir unbekannten Toten bedeuten mir nichts. Wem ich allerdings gerne gedenken möchte, wäre mein Vater! Ich habe leider erst im Nachhinein gehört, was mit ihm geschah, weil ich, als er starb, auf Burg Krähenfels festsaß, wie ihr wisst. Aber er wäre wirklich der einzige, dem ich mein Gedenken aus vollem Herzen widmen würde…. Also frage ich euch, Herr Ioric, wie wollt ihr das Gedenken abhalten? Gibt es eurerseits eine bestimmte Person oder Personen, die euch in den Sinn kommen und für die ihr ein paar Worte sprechen wollt? Wollt ihr ein Gebet gesprechen? Oder wollt ihr ein stummes Gedenken?“

Ioric nickte. “Der Tod eures Vaters war -”, er zögerte einen Moment, suchte nach einer Formulierung. Unwillig, Zunder zum glimmenden Zorn der jungen Vialigh hinzuzufügen, entschied er sich für eine, welche wenig über seine Bewertung der Umstände des Todes von Jarwain von Tannengrund verriet: “- bedauerlich.” Kurzentschlossen griff er nach Talwens Handgelenk. “Für euren Verlust habt ihr mein Mitgefühl.” Er seufzte leise, wog ihre Hand in seiner. “Ich bevorzuge es, im Stillen zu gedenken. Es - es fällt mir schwer, Worte zu finden, welche ich im Angesicht der Toten als angemessen empfinde. Wenn ihr aber etwas aussprechen wollt, dann will ich gerne Zeuge eures Gedenkens sein.”

Talwen starrte auf ihre Hand, die auf einmal in seiner lag. „Gibt es überhaupt Worte, die angemessen sind?“ stellte sie die Frage in den Raum zwischen sich und ihn. „Wie sagt man, dass man jemanden vermisst? Dass man sich wünscht, derjenige wäre noch da? Und wie sagt man einem anderen, dass er Schuld daran trägt, dass ein lieber Mensch --“ abrupt hielt Talwen inne und sah auf. „Ich habe meinen Vater sehr geschätzt und wäre froh, wenn er mir heute noch sein Ohr und seinen Rat leihen würde.“ Dann legte sie den Kopf schief und schnaubte belustigt. „Es fühlt sich seltsam an, dass ihr meine Hand haltet, während wir meines toten Vaters gedenken, der nur durch euer Tun in die Hände derer geriet, die ihm den Hals durchtrennten. Aber seid unbesorgt, ich werde kein Wort der Anklage mehr verlieren, weil mir das Urteil der Leuin teuer ist.“ Im nächsten Moment griff sie um, schloss diesmal ihre Hand um sein Gelenk und zog den Ritter am Arm mit einem Ruck zu sich her. „…auch, wenn ich es in diesem Moment gerne getan hätte, stünde es noch anders zwischen uns,“ raunte sie ihm im Moment seines ersten Erstaunens zu.

Iorics Hand zuckte zurück, als hätte ihre Berührung ihn verbrannt. Hastig trat er einen Schritt zurück, und obwohl die Finsternis den Ausdruck seiner Augen verbarg, war in seinem Gesicht erst Überraschung, dann Verstehen und schließlich ein verletzter Ausdruck deutlich zu erkennen. Sein Kiefer mahlte, während er sich erfolglos bemühte, die Kontrolle über seine Gesichtszüge zurückzugewinnen. “Ihr…Ihr…” Seine Stimme war tonlos, während er Talwen anstarrte. “Ihr gebt mir die Schuld am Tod eures Vaters”, stellte er fest, ehe er den Blick auf den Boden richtete und schwieg.

„Krähenfels!“ grollte sie, als er so zu Boden sah. „Ihr hört mir wohl nicht zu!“ Verärgert stieß sie ihn mit der Hand gegen seine Schulter. „Bis gestern habe ich euch für eine ganze Menge verflucht. Unter anderem dafür, dass euer Verrat diesen Schweinen erst die Möglichkeit gab, Glennbarr zu erobern und damit meinen Vater zu einer Geisel zu machen, mit der sie später meine Mutter zwingen wollten, die Tore Tommeldomms zu öffnen. Und, glaubt mir, ich habe auch meine Mutter mehr als einmal verflucht, weil sie Vaters Tod so billigend in Kauf genommen hat,“ knurrte sie verächtlich. „Aber heute ist heute. Ihr habt doch seine Gnaden Raidri gehört. Das alles soll ab heute der Vergangenheit angehören. Betrauern wir also jetzt zusammen die Toten? - Oder werde ich immer, wenn ihr mich zukünftig küsst, daran denken, dass da doch noch etwas zwischen uns steht?“ Mit bebender Brust vor Ioric stehend, welcher überrascht aufsah, realisierte Talwen, was sie gerade gesagt hatte. Zum Nachdenken kam sie allerdings nicht, denn der Ärger war über sie gekommen wie ein Sturmbrausen Rondras und galt gleichermaßen ihm wie ihrer Mutter, wie überhaupt allem. Auch ihr selbst, weil es ihr viel zu wenig egal war, was er über sie dachte.

Schweigend sah Ioric von Krähenfels sie an und nur langsam zogen sich die Zeichen innerer Zerrissenheit aus seinem Gesicht zurück. Sein Blick ruhte auf ihr, suchte die kaum auszumachende Reflektion des Lichtscheins seiner Laterne in ihren dunklen Augen.

„Habt ihr mir überhaupt zugehört?“ wollte sie von ihm wissen, irritiert, weil er bisher keinerlei Reaktion zeigte.

Sein Ausdruck wurde weicher. Dann brach er sein Schweigen: “Gewähren wir den Toten einen Augenblick - wie lange auch immer ihr für angemessen haltet - und danach gibt es wohl etwas, das die Lebenden zu besprechen haben.”

Jetzt war es Talwen, die ihn für die Dauer mehrerer Herzschläge stumm ansah, und auch in ihrem Gesicht spiegelten sich die verschiedensten Echos ihrer Gedanken wider. Dann nickte sie. „In Ordnung. Lasst mich noch etwas dafür holen,“ murmelte sie und wandte sich ihrem Pferd zu. Sie kramte in einer ihrer Satteltaschen und kam mit einer kleinen Flasche Holderbrand von der Größe, wie er sie bereits kannte, zurück. Wortlos kniete sie als nächstes hinab zu seiner Laterne, öffnete das Glas und blies das Feuer darin kurzerhand aus. Nun mehr standen sie in stockfinsterer Nacht. Er hörte sie tief atmen, als sie sich einen Schritt entfernte und sich ins Gras setzte. Dort begann sie kurz darauf ein Lied zu singen. Eines, welches nicht sehr verbreitet war in Adelskreisen, da es eigentlich vom Göttervertrauen des einfachen Mannes handelte - zweifelsohne ließ der umgangssprachlichen Ausdruck, in dem es geschrieben ward, dies erkennen. Auch ließ sie offen, woher sie es kannte, aber sie schien es jedenfalls nicht zum ersten Male zu singen, so viel stand fest.

„Tag für Tag in allen Augenblicken
Fühl ich Kraft, die Zeiten zu bestehen.
Im Vertraun, die Götter werdens richten
Alles so, auch wenn wir‘s nicht verstehn.
Und ich fühle tief in mir den Frieden
Der mich durch mein Leben stetig trägt
Er ist Teil von Freuden und von Leiden
Das bezeug ich jedem, der mich frägt.“

  • (OT: Zu singen auf „Blott en dag“)

Der Klang ihrer Singstimme war ganz anders als die Stimme, mit der sie für gewöhnlich sprach oder schimpfte. Weich und warm. Oder mochte es daran liegen, dass sie ob der Situation ein Gefühl hineinlegte, welches sie sonst nur selten, und schon gar nicht ihm gegenüber zeigte - Verletzlichkeit?

Nun war auch Iorics Stimme zu vernehmen - er sang leise, fast zaghaft Töne mit, wie das Kind, das er gewesen war, als er das letzte Mal diese Melodie vernahm.

„Wie nach Regen immer kommt die Sonne
So währt auch mein Lob in einem fort.
Meiner Seele Nahrung, Wärme, Wonne
Find ich überall an jedem Ort.
Denn mein Herz weiß, dass die Götter schenken
Mir ihr Aug wo ich auch wandeln mag.
Ihnen will ich immerzu gedenken
Bis zu meinem allerletzten Tag.

Götter nehmen und die Götter geben
Es ist immer schon dasselbe Lied.
Glück und Gnade, Wohlstand, Tod und Leben
Ernte, Wissen, Heilung, Heim und Lieb.
Und am Ende eines langen Lebens
Leg mein Haupt ich nieder unverzagt
Weil in Alveranes Paradiesen
Ich zum Dank dann Einzug finden mag.“

Am Ende war Talwens Sang langsamer geworden und nun, da der letzte Ton zögernd verklang, schien die Stille der Nacht mächtiger als zuvor. Mit einem feinen Plopp öffnete sie den Holderbrand, hielt ihn hoch und prostete in den schwarzen Himmel, der übersät war mit abertausenden von Sternen. “Vater. Du hattest es nicht verdient, so grausam aus dem Leben gestoßen zu werden. Nun sei der Herr Boron mit dir und ich hoffe, dass du in jenes Paradies aufgenommen wurdest, welches nur du allein kennst. Denn du warst ein Mann, der meist leise Töne anschlug, wie der Stille, oder auch der Grimmige. Ich weiß nicht, wem dein Streben galt, du hast es mir nie gesagt. Ich will mit der Liebe einer Tochter an dich denken und trinke ein letztes Mal auf dich. Doch lass mich dir noch eines sagen:“ Talwens Worte waren ebenfalls leise geworden, ihr Mund trocken. Ihre Zunge klebte wie ein ranziger Lederlappen an ihrem Gaumen. „- Du fehlst,“ brachte sie gerade noch mit einem Flüstern hervor, dann setzte sie schnell das Fläschchen an ihre Lippen. Sie wollte nicht weinen, schon gar nicht vor Ioric von Krähenfels. Doch der Moment lag plötzlich schwer auf ihrem Herzen und dem erwehren konnte auch sie sich in diesem Augenblick nicht. Indem sie erneut einen Schluck trank, diesmal einen großen, kämpfte sie die Tränen nieder, die ihre Augen ungefragt füllten.

Ioric hatte sich, während sie grüßend die Flasche zum Himmelszelt hob, ebenfalls im Gras niedergelassen. Wortlos hatte er ihrer Rede gelauscht, ein fast formloser Schatten, welcher reglos eine Armeslänge entfernt saß. Vorsichtig überwand Ioric nun die Distanz zwischen ihnen und rückte an sie heran, seine Nähe ein stummes Angebot, doch eines, welches sie durch Untätigkeit ausschlagen konnte.

Aber sie nahm es an und lehnte ihre Schulter einstweilen bei ihm an, nach wie vor bemüht, gegen die Traurigkeit anzukämpfen.

Ioric rührte sich nicht, als sie sich an ihn lehnte. Mit einem fast unhörbaren Seufzer sah er zu den Sternen hinauf, hing seinen eigenen Gedanken nach. In der Stille gedachte er seinem eigenen Vater, wenn auch die Wunde seines Verlustes inzwischen deutlich blasser war als jene der Ritterin neben ihm, konnte er gut nachfühlen, was es hieß, mit dieser plötzlichen Leere im Leben konfrontiert zu sein.

Talwen war dankbar, dass der Krähenfels keinen Arm um sie schlang, denn womöglich hätte diese mitfühlende Geste dafür gesorgt, dass sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten hätten können. Nun riss sie sich mit einem langen Atemzug zusammen und hob die Berührung zwischen ihren Schultern nach nur wenige Augenblicke auch schon wieder auf. Nebenher wischte sie sich feuchte Rinnsale von den Wangen, die heiß brannten vom Zurückhalten der Flut. Ein wenig hatte sie davon auch Kopfschmerzen. “Und wem wollt Ihr gedenken?” fragte Talwen tonlos und reichte Ioric das Fläschchen, um davon abzulenken, dass sie sich gerade von dem großen Schmerz in ihr fast hätte überwältigen lassen.

Dieser nahm das kleine Gefäß mit einem dankbaren Nicken entgegen. Er vermisste ihre Berührung, womöglich hätte er sich ein Herz fassen und den Arm um sie legen sollen. Doch der Moment war vergangen und sie hatte sich zurückgezogen und ließ ihn in ratlosen Wissen um ihren Schmerz zurück. “Ich dachte, ich komme hierher, um den Toten zu gedenken,” seine Stimme war belegt und er sprach unsicher, im starken Kontrast zu seinem üblichen Auftreten, “ - vor allem jenen, für die die wenigsten der hier Versammelten ein freundliches Wort hätten.” Er sah erneut hinauf ans Firmament, ehe er leiser fortfuhr: “Aber gerade habe ich meinem Vater gedacht.” Er setzte an und nahm einen tiefen Schluck, so tief, dass er nicht umhin kam ein wenig zu husten, als er wieder absetzte und Talwen die Flasche zurückgab.

Sie erinnerte sich, dass er ihn schon einmal erwähnt hatte. Bei ihren Gesprächen während des Buhurts. Sie musste sich allerdings eingestehen, dass sie gerade nichts mehr darüber wusste. „Wie war er?“ kam es leise von ihr.

Er schien kurz zu überlegen. “Er war… beliebt. Er mochte die Menschen und die Menschen mochten ihn. Ein großer Geschichtenerzähler, besser als viele, die auf Jahrmärkten ihr Silber damit verdienen. Er war zufrieden mit dem Platz, den das Schicksal ihm gewiesen hatte und stolz darauf, dass sein Wort, einmal gegeben, ihn band.” Ioric lächelte kurz in der Finsternis. “Ich glaube, er war ein ziemlicher Herzensbrecher, bevor er meine Mutter ehelichte. Und obwohl sie sich nicht wie in den Liedern geliebt haben, glaube ich doch, dass sie stets einander treu und zugetan waren.” Ioric seufzte leise, dann verstummte er.

Hinter geschlossenen Augen spürte Talwen seinen Worten nach und fand, dass sie über die Beziehung ihre eigenen Eltern ganz ähnlich sprechen konnte. Ob auch ihr Vater ein Herzensbrecher gewesen war, stellte sie zwar stark in Frage, immerhin war er ein eher verschlossener Mensch gewesen, doch Schicksalsergebenheit kannte sie von ihrem Vater auch. Und auch ihre Eltern schien etwas verbunden zu haben, was Barden für gewöhnlich nicht besangen. Talwen fiel das junge Adlerweibchen ihrer Mutter ein. Tat sie beiden mit ihrer Ablehnung Unrecht? War ‚Jarwa‘, nicht doch vielleicht ein guter Name für dieses majestätische Tier, und hatte ihre Mutter diesen womöglich nicht etwa als Zeichen ihrer Zuneigung für die junge Adlerin, sondern als Ehrbekundung für den verstorbenen Gefährten vergeben? Dieser Gedanke beschäftigte Talwen plötzlich, denn er war ihr bisher tatsächlich noch nie gekommen, sie hatte diese Namensgebung bisher immer nur belächelt und beschimpft - und dabei vielleicht gänzlich missverstanden? Sie musste mit ihrer Mutter darüber sprechen. Doch sie besann sich ihrer Prioritäten und seufzte schwer, bevor sie zu Ioric hinübersah. „Es ist schön, wie ihr über ihn sprecht. Er hat es bestimmt gehört. - Wer sind die, auf die wir noch trinken sollten? Wenn ihr sagt, dass andere dies heute nicht tun werden, ist es doch unsere Pflicht. Gewissermaßen.“

Ioric schien einen Moment nachzudenken. “Nein - meine Pflichten gelten den Lebenden”, gab er nachdenklich zurück. ”Die Toten verpflichten nur die Diener des Raben.” Er nickte, dann zögerte er kurz. “Ich möchte auf die Gefallenen jener Tage trinken, ganz gleich welchen Namen oder welche Farben sie trugen.”

Talwen nickte. „Dann tun wir das.“ Sie hielt ihm das Fläschchen hin, denn sie wollte ihm den Vorzug geben.

Ioric streckte die Hand aus und griff nach der Flasche. In die Nacht hinein grüßend, hob er sie hoch, ehe er sie an die Lippen setzte und trank, deutlich maßvoller als zuvor.

Nachdem sie das Getränk zurückbekommen hatte, tat Talwen es dem Haushofmeister Eichengrunds gleich. Einen Moment verharrte sie noch, das kleine Gefäß in beiden Händen, und spürte in sich hinein. Der Nachhall von Trauer schmeckte bitter. Doch es war notwendig gewesen, fand sie, und ganz gleich welcher Meinung er war, sie hielt es für eine Pflicht. Dennoch ertrug sie heute keinen weiteren Schmerz mehr, entschied sie für sich, und traf eine Entscheidung: entschlossen leerte Talwen den Rest des Schnapses ins Gras und schlug den Korken demonstrativ in die Öffnung, als die Flasche leer war. „Gefühlt gestern saßen wir wegen des armen Ardan Falkraun beisammen und heute….“ Sie sprach ihre Worte nicht zu Ende. In Gedanken sah sie sich mit dem Krähenfels auf der Turniertribüne sitzend, die Beine vom Rand baumelnd und in ähnlich gedrückter Stimmung Holderbrand leerend. Seitdem war zwar niemand mehr gestorben, doch trotzdem viel passiert. „Ich möchte gern in nächster Zeit kein Totengedenken mehr mit euch abhalten, Krähenfels! - Sonst werde ich zum Säufer,“ machte sie einen Scherz, der allerdings aufgrund der gedrückten Stimmung nichts Scherzhaftes an sich hatte.

Ioric lachte freudlos. “Es ist nicht an uns, zu entscheiden, wer lebt oder stirbt, Frau Vialigh!” Nach einem kurzen Moment des Schweigens versuchte er sich seinerseits an einem Scherz: “Ich gebe eurem Holderbrand die Schuld…” Aufmerksam sah er durch die Dunkelheit zur jungen Vialigh hinüber.

Die seufzte tief und schwer. „Keine Sorge. Die Flasche ist jetzt leer.“ Ob sie den Scherz verstanden hatte oder dumm fand und deshalb ignorierte, ging nicht hervor. „Aber ich ziehe sie euch über den Schädel, wenn ihr auch nur einem Menschen erzählt, dass uns beiden fast die Tränen gekommen wären,“ versuchte sie ihrerseits mit fadem Ulk zu kontern.

Nun musste Ionic tatsächlich leise lachen. “Bitte nicht, die Erinnerung an eure letzte Tracht Prügel ist noch ein wenig zu frisch.” In einer gleichsam beschwichtigenden wie abwehrenden Geste hob er die Hände.

Sein Lachen tat gut und vertrieb auch ein wenig die Schwere, die auf ihr lag. „Immer wieder gerne.“ Sanft brach sich ein Lächeln in ihrem Gesicht Bahn. „Sagt, was ist eigentlich aus eurem Schwert geworden?“

“Es liegt in meinem Zelt, hoffe ich. Ich habe es einem Waffenknecht übergeben”, brummte Ioric. “Ich schätze es für gewöhnlich als Symbol meines Standes, aber zurzeit taugt es wohl kaum als ein solches.”

„Werdet ihr es aufbewahren? Möglicherweise passt es gut an die Wand, an der auch mein Dolch hängt.“ Während sie sprach, zog sie die Beine an und legte die Unterarme bequem auf ihren Knien ab.

“Ich denke schon. Wenn ich ehrlich bin habe ich noch nicht darüber nachgedacht - aber es fühlt sich falsch an, es einschmelzen oder reparieren zu lassen.” Ioric machte eine Pause, schien nachzudenken, dann gluckste er leise. “Ihr glaubt doch nicht etwa, dass ich euer Pfand an einer Wand neben einem zerbrochenen Banner und einem Hirschgeweih ausstelle?”

„Nein, das stimmt, ihr werdet ihn nicht ausstellen.“ Die Begründung lieferte sie gleich mit: „Weil ihr etwaigen Betrachtern dann erklären müsstet, wie ein Jagddolch mit meinem Wappen in euren Besitz kam.“ Die Vorstellung entlockte ihr ein Schaudern und Belustigung gleichermaßen. „Ich denke eher, dass ihr ihn unter eurem Kopfkissen aufbewahrt, ay? Nun ja, das wäre natürlich die Begründung dafür, warum ihr von mir träumt.“ Der Ernst fiel von ihr ab wie ein Sack Kies, und zerrann in diesem von zaghaften Frotzeleien getragenen Gespräch wie ausgeschütteter Holderbrand auf dem Wiesenboden.

“Vielleicht muss das wie und wo des Verbleibs dieser Troph…- ich meine natürlich Leihgabe, vorerst mein Geheimnis bleiben.” Ioric schaukelte vergnügt im Sitzen. “Ihr seid aber jederzeit willkommen, euch von der Angemessenheit der Verwahrung zu überzeugen.”

“Ich weiß,” entgegnete Talwen ihm und ließ offen, ob sie dies jemals tun würde. “Ich vertraue bis dahin eurem Wort, dass ihr gut drauf aufpasst.” Sie bemerkte sein Hin- und Herwippen. “Könnt ihr nicht mehr sitzen? Schmerzt euch die Rippe zu sehr?”

Ioric hielt inne. “Nein. Mir geht es gut, seid unbesorgt. Und was euren Dolch angeht: Ich gebe darauf ebenso Acht wie auf die sonstigen Geheimnisse, die wir teilen”, versicherte er ihr dann ernsthaft. “Aber wenn es euch nichts ausmacht, würde ich gerne diesen Ort verlassen, nun, da den Toten gedacht wurde. Ihr kennt doch sicher einen Platz am Fluss, oder dergleichen. Oder wollt ihr auf das Fest oder die Burg zurückkehren?”

“Um ehrlich zu sein, war ich ganz froh, mich dem Wachritt anschließen zu können. Das Fest,“ sie deutete seufzend in Richtung Dorf und Festplatz, „sollen diejenigen genießen, die es können. Mir ist tatsächlich mehr nach dunkler Stille.“ Dass sie floh, weil ein Waffenknecht ihrer Mutter sie zu umgarnen versuchte und sie nicht zum Spielball der politischen Bemühungen ihrer Mutter werden wollte, ließ sie unerwähnt. Gleichzeitig war ihr bewusst, dass sie nicht drum herumkommen würde, irgendwann zur Festgesellschaft zurückzukehren. „Das heißt, ihr möchtet gerne weiterhin meine Gesellschaft, sehe ich das richtig?“ Dieser Wunsch traf in ihr auf einen Gleichgesinnten und ebenso auf rahjanische Gedanken von sich und ihm. „Nun… es gibt schon das eine oder andere Plätzchen am Gemhar… und auf dem Broch auch.“ Sie ließ den dreisten Gedanken zu, ihn auf den Broch zu entführen, in ein Lager, wo sie es sich schon selbst auf eine ganz bestimmte Weise warm machen würden - bevor sie diesen Gedanken auch schon wieder bezwang. „Aber meint ihr nicht, dass man euch möglicherweise schon vermisst?”

Ioric schüttelte den Kopf. “Nein, ich glaube nicht.” Er zögerte kurz. “Und es wäre mir auch gleich”, gab er dann ungerührt zu. “Eure Gesellschaft ist das einzige, dem ich heute mit Vorfreude entgegen gesehen habe.”

Daraufhin neigte die Vialigh ergeben ihr Haupt. Das feine Schmunzeln, welches diese huldvolle Geste begleitete, konnte Ioric aufgrund der Dunkelheit nur erahnen. „Ihr seid der Gast und ich angehalten, mich um euer Wohlergehen zu kümmern! Daher…“ sagte sie gönnerhaft. Freilich ein gerne vorgeschobener Grund. Sie hatte sich rasch in den Stand gedrückt und streckte dem Krähenfels die Linke hin, um ihm aufzuhelfen, sofern er ihre Hilfe wollte. „Wo zieht es euch hin? Zum Fluss?“

Ioric ergriff ihre gebotene Hand, auch wenn er während des Aufstehens nicht den Eindruck erweckte, die Hilfestellung zu benötigen. “Überrascht mich!”, antwortete er leise auf ihre Frage, als er wieder auf den Beinen stand.

Er hörte sie leise lachen. „Na schön. Ich denke, ich kenne da einen Ort, der euch gefallen könnte. - Aber zuerst müsst ihr meine Hand loslassen,“ wies sie auf den Umstand hin, dass er sie noch nicht wieder freigegeben hatte, ohne selbst Anstalten zu machen, ihre Hand aus seiner zu ziehen, was ohne Weiteres möglich war.

Ioric sah zu den Händen hinab, ganz so, als müsste er sich mit eigenen Augen von ihrer Beobachtung überzeugen. Anstatt sie jedoch freizugeben, legte er seine freie Hand auf ihre Hüfte und lächelte.

„Und ihr braucht euer Pferd. Außer, ihr seid damit einverstanden, dass wir gemeinsam meines nehmen. Oder zu Fuß gehen. Ich richte mich da ganz nach euch. Ihr seid der Gast.“

“Dann lasst uns das Eure nehmen. Ich habe wenig Lust mein Eigenes zu dieser Stunde aufzuzäumen, oder die Fragen, die dies mit sich bringen würde, zu beantworten.”, entschied Ioric.

„Ihr könntet sagen, dass ihr einen nächtlichen Ausritt machen und euch das Lehen ansehen wollt, welches ihr vor einem halben Götterzwölft in Unheil stürztet. Es wäre zumindest nicht ganz gelogen,“ schlug sie trocken vor, nicht ohne Schmunzeln. „Doch ich verstehe, was ihr meint. Allerdings….“ Ihren Worten folgte ein dezentes Hüsteln, das von einem kurzen Seitenblick zu seinem Arm begleitet wurde, der sich nach ihr ausstreckte.

Ioric schmunzelte ebenfalls und gab sie frei. “Nach euch, Hohe Dame.”

„Dann kommt, hoher Herr.“ Sie konnte über seine Annäherung eigentlich auch nur freudig lächeln und wandte sich daher wissend um.