Ein richtiger Geweihter (1044) Teil 01: Unerwarteter Besuch

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Auf dem Dorfplatz

Wallersrain
Anfang Rahja 1044 BF

Ein Travia-Geweihter kam niemals schnell voran. Selbst wenn er auf dem Wege zügig ausschritt, so fiel doch seine Rast immer etwas länger aus, sobald er unter einem Dache und mit anderen Menschen zusammen weilte. Gerade Anfang Rahja gab es für ihn in so manchem Dorf einen Ehestreit zu mäßigen, wenn der eine oder die andere beim Fest der Freuden zu sehr über die Stränge geschlagen hatte.  So nahm der Weg von Tommeldomm bis Wallersrain eine Woche in Anspruch. Aber das hatte Dílleachdan ui Géadh nicht anders erwartet, er hatte es sogar in seine Pläne einbezogen. Denn so war es der späte Nachmittag des 11. Rahja 1044, als er sich dem beeindruckend befestigten Dorf am Seeufer über den Libellenweg näherte. Ein Erdstag, Neumond zumal, also unter den Zeichen von Simia, Aves und Ucuri - wie geschaffen für Veränderungen und einen Neubeginn, der unter den göttlichen Geboten stehen sollte.

Von der Torwache hatte er sich den Weg zum Travia-Tempel am Dorfanger weisen lassen und auch gleich in Erfahrung gebracht, ob Mutter Geselwen denn - wie erhofft - dort anzutreffen sei. Die beiden waren einander schon öfter begegnet: in Honingen, in Bredenhag und andernorts, aber in ihrem Heimattempel hatte der junge Geweihte sie noch nie aufgesucht.

Der Dorfplatz von Wallersrain war zu dieser Stunde nur noch wenig belebt, so dass Dílleachdans Blick rasch auf das stattliche Wahrzeichen des Dorfes fiel: eine altehrwürdige Steineiche mit imposantem Blätterdach, das die umstehenden Häuser deutlich überragte. Noch während der Geweihte diesen Baum nachdenklich betrachtete (und dabei ins Sinnieren über andere Bäume an anderen Orten geriet), trat ein junger Bursche von vielleicht 15 Jahren an ihn heran. Neugierig beäugte der blonde Jüngling den Fremden, dann sprach er ihn freundlich an: “Euer Gnaden? Willkommen in Wallersrain. Mein Name ist Eldrik. Kann ich Euch vielleicht behilflich sein?” “Travia zum Gruße, Eldrik”, antwortete der junge Geweihte mit seiner hellen, wohlklingenden Stimme. “Ja, das kannst du”, fügte er dann hinzu, indem er die Frage des Burschen wörtlich nahm. “Ich bin Dílleachdan ui Géadh vom Schrein in Tommeldomm, und ich möchte Mutter Geselwen einen Besuch abstatten.” Der Bursche grinste und verneigte sich kurz. “Das hab ich mir doch fast gedacht”, entgegnete er neunmalklug und wies sogleich einladend auf ein kleines Fachwerkhaus zu seiner Linken. Ein massiver Holztisch mit einer ebensolchen Bank und vier Schemeln war davor platziert. Zwei große Schüsseln und ein Haufen Kartoffelschalen zeugten davon, dass bis vor Kurzem noch jemand dort gesessen haben musste. Und tatsächlich trat in diesem Moment eine Frau im Ornat der Traviakirche durch die Tür und schickte sich an, wieder Platz zu nehmen, als hinter dem Haus lautes Geschnatter erklang. Kurz hielt Geselwen Brunnentrunk inne, dann jedoch beließ sie es bei einem lauten “Ruf mich, wenn du Hilfe brauchst, Bran!”, rückte sich lächelnd einen der Schemel zurecht und zog ein kleines Messer aus ihrem Gürtel. “Danke, Eldrik, da hast du mir geholfen”, sagte Dílleachdan zu dem Jungen. Dann ging er ein paar Schritte auf die Geweihte zu und sagte schon im Gehen vernehmlich, aber immer noch wohlklingend: “Travia zum Gruße, Mutter Geselwen! Darf ich Euch auch um Hilfe rufen?” Erstaunt erhob sich die Geweihte und sah dem unerwarteten Gast entgegen. Mit einem breiten Lächeln schritt sie sogleich auf den Neuankömmling zu. “Travia zum Gruße, Bruder Dílleachdan. Selbstredend – was für eine Frage”, kam es tönend zur Antwort, ehe die Ältere den jungen Geweihten in ihre Arme schloss, der diese Umarmung gern erwiderte. “Aber zunächst müsst Ihr Euch stärken!”, entschied sie, legte Dílleachdan den Arm um die Schulter und führte den Gast zum Tisch. “Es sei denn, es geht um Leben und Tod”, schob sie leise und mit einem kritischen Seitenblick nach. Dílleachdan schüttelte begütigend den Kopf. “Es geht zwar in gewissem Sinne um Leben und um Tod … aber nicht so, wie man diese Wendung gemeinhin verwendet. Also – eine wichtige Frage, aber eine, über die man während oder nach einer Stärkung in aller Ruhe reden kann.”

Geselwen schien ob der Worte des Tommeldommers beruhigt und bot Dílleachdan sogleich einen Platz auf der Bank an. “Genießt ein wenig die Abendstimmung”, meinte sie sanft und tätschelte dem Gast die Schulter, “ich bin gleich zurück.” Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis die Ältere mit einem Krug und zwei Bechern sowie einer Schale mit Gebäck wieder in der Tür des Tempels erschien. “Ich hoffe, Ihr mögt Apfelmost?”, fragte sie etwas außer Atem, um dann, ohne eine Antwort abzuwarten, auch schon schwungvoll einzuschenken. “Die Kartoffeln brauchen noch ein wenig”, fuhr die Geweihte entschuldigend fort, “aber für etwas Süßes ist doch jederzeit die rechte Zeit.” Tatsächlich war der Wallersrainer deutlich anzusehen, dass sie gerne naschte, wobei ihre rundlichen Wangen ihr etwas Warmes und Herzliches verliehen. Ein unbeteiligter Beobachter hätte die beiden ungleichen Gesprächspartner gut und gerne für Mutter und Sohn halten können. Und mütterlich sorgenvoll war auch der Blick, den Geselwen Brunnentrunk dem unerwarteten, doch höchst willkommenen Gast nun zuwarf. “Also sprecht frei heraus, was ist es, das Euch plagt?”, kam sie ohne große Umschweife zur Sache.

Dílleachdan war eigentlich zu mager, um ein Sohn dieser Mutter zu sein. Seine Züge trugen noch die Spuren von Hunger in der Kindheit. Den angebotenen Trunk nahm er selbstverständlich gern an und prostete der Geweihten mit einem “Traviadank” zu. Er trank einen ordentlichen Schluck, denn die sommerliche Wanderung hatte ihn durchaus durstig gemacht. Dann setzte er den Becher wieder ab und beantwortete die Frage der Geweihten – wie beinahe üblich, indem er ihre Bemerkung wörtlich nahm. “‘Plagen’ wäre zuviel gesagt, Mutter Geselwen, aber es treibt mich doch schon um”, sagte er. “Im kommenden Herbst jährt sich meine Weihe zum vierten Mal. Im Jahr darauf werde ich dann vier Jahre den Schrein in Tommeldomm hüten – und wenn’s die Götter und die Menschen fügen, vielleicht auch schon den Grundstein für einen Tempel gelegt haben. Aber um ein richtiger Geweihter der Herdmutter zu werden, fehlt mir noch eine wichtige …”, er suchte kurz nach einem Wort und fand es in der reichhaltigen Sprache der Küche, “... Zutat.”

Kurz stutzte die Wallersrainerin, dann erhellten sich ihre Gesichtszüge. “Ich verstehe”, meinte sie, “und Ihr habt vollkommen Recht. In Eurem Alter war ich schon Mutter!” Für einen Moment musterte sie den Jüngeren, ganz so, als wollte die Geweihte ihre eigene Aussage überprüfen. “Wie alt seid Ihr noch gleich?” Dílleachdan wirkte erleichtert, dass Mutter Geselwen sein Anliegen so schnell verstand. “Zweiundzwanzig Götterläufe”, antwortete er auf ihre Frage. “Im Travia werde ich dreiundzwanzig, ich bin kurz vor meinem Tsatag geweiht worden.” Er hielt kurz inne, bevor er etwas verdruckst hinzufügte: “Vor dem Tag, der als mein Tsatag gilt. Wann genau ich geboren wurde, weiß ich nicht.” “Bedauerlich”, nickte die Wallersrainerin und legte Dílleachdan sacht eine Hand auf die Schulter. “Aber sagt, habt Ihr nach Eurer Weihe eine Pilgerreise nach Rommilys unternommen? Ihr müsst wissen, dort habe ich meinen Bronnafried kennengelernt. Und ganz abgesehen davon ist es eine wahrhaft erfüllende Erfahrung.” Die Augen Geselwens strahlten den Jüngeren erwartungsvoll an. Dílleachdan schüttelte den Kopf. “Ich habe das vorletzte Jahr meines Noviziats in Rommilys verbracht”, erwiderte er. “Das war auch eine wahrhaft erfüllende Erfahrung. Zu sehen, wie viel die Travia-Kirche bewegen kann … aber für die Suche nach der Gefährtin fürs Leben war es wohl noch etwas zu früh.” “Hmmm”, Mutter Geselwen legte den Kopf schief. “Mag sein. Man weiß nie, was die Herdmutter für einen bereit hält. Aber Ihr werdet es spüren, wenn Ihr der Richtigen begegnet. Es sei denn, Ihr habt falsche Erwartungen.” Die Stimme der Geweihten hatte einen mahnenden Tonfall angenommen, und nun sah sie Dílleachdan prüfend an. “Erwartungen?”, echote Dílleachdan ratlos. “Eine junge Frau, ungefähr in meinem Alter, mit der ich eine Familie gründen und gemeinsam einen Tempel führen kann.” Die Ältere nickte wohlwollend. “Manche jungen Leute haben gewisse Vorstellungen, denen das Leben nur schwer gerecht werden kann”, erklärte sie bereitwillig. “Aber ich war mir recht sicher, dass Ihr nicht dazu gehört. Seid Ihr denn schon jemandem begegnet, mit dem Ihr es Euch vorstellen könntet und sucht vielleicht nur noch Rat, wie Ihr es angehen sollt?”

Dílleachdan errötete ein wenig, und es war nicht der Hitze des Tages geschuldet. “Ehrlich gesagt, nein. Oder noch ehrlicher gesagt: Es gab da eine Frau, bei der ich solche Überlegungen hegte – aber sie ist … nun, es wäre ohnehin eine merkwürdige Vorstellung gewesen.” Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher, aber es war offenkundig, dass er mit seiner Rede noch nicht fertig war. “Die Sache ist die …”, fing er dann mit bedächtig tastenden Worten wie von Neuem an. “Ich habe vor wenigen Wochen zum ersten Mal in meinem Leben eine Freundschaft geschlossen. Mit jemandem, der mich zwar als Diener der Herdmutter sieht, aber nicht nur als einen solchen – sondern auch als einen Menschen. Und jetzt weiß ich, dass ich so etwas auch für meine Ehe suche. Eine Frau, die nicht ehrfürchtig erstarrt, weil sie es mit einem Geweihten zu tun hat - aber die zugleich versteht, was es bedeutet, einer Gottheit zu dienen. Die ihr Leben mit dem Priester und dem Mann Dílleachdan teilen will.” Geselwen strahlte. “Das habt Ihr sehr schön gesagt! Ihr braucht eine Frau mit einem großen Herzen. Und zupackend sollte sie sein. Den Bund mit einem Geweihten der Herdmutter einzugehen, bedeutet immer auch, sich Ihrer Sache zu verschreiben. Es bedeutet zu erkennen, wenn jemand Beistand braucht, ihm die Tür zu öffnen und ihn in die eigene Familie aufzunehmen, zumindest für eine gewisse Zeit. Das haben auch unsere Kinder von klein auf gelernt. Sie hatten ihre Eltern nie ganz für sich. Aber sie alle haben mir versichert, dass es ihnen nie so vorgekommen ist wie ein Verlust. Vielmehr haben sie viele wertvolle Erfahrungen gesammelt und sich den Menschen zugewandt.” Dílleachdan schaute nicht nur erleichtert drein, er wirkte geradezu beseelt von dieser Antwort. Wie beglückend, dass seine Worte auf so viel Verständnis und Bestätigung stießen. Aber jetzt musste Butter bei die Fische, wie man an der Küste zu sagen pflegte. “Und wüsstet Ihr da eine Frau, auf die all das zutrifft?” Irritiert sah Geselwen Brunenntrunk ihn an. “Na, Ihr habt es aber eilig. Ich kann doch nicht eine passende Gemahlin aus dem Hut zaubern. Das will mir ja schon bei meinen eigenen Kindern nicht recht gelingen”, sie lachte. “Und die sind nun wirklich gut geraten.” Dílleachdan errötete wieder. Vielleicht hatte er sich das zu einfach vorgestellt – oder genauer gesagt: Vielleicht hatte er noch gar nicht darüber nachgedacht, wie es nach diesem Punkt weitergehen könnte. “Ich dachte doch nur, weil Ihr so viele Menschen aus der Gegend kennt… Also nicht nur einfach kennt, sondern auch einschätzen könnt”, haspelte er unbeholfen. „Sicher“, nickte die Ältere. „Und viele von ihnen sind auch noch nicht vor Travia verbunden. Doch denke ich, die meisten der Göttin gefälligen Handwerkerinnen oder Mägde schauen eher nach einem anderen Handwerker, einem Knecht oder, wenn sie besonders keck sind, nach einem Waffenknecht der Herrschaft.“ Sie legte den Kopf schief. „Meine Tochter Lynna hilft hier in der Herberge aus, Königin Invher“, fügte sie erklärend hinzu. „Sie sieht gewiss bunteres Volk. Es ist nur fraglich, ob jeder, der seine Zeit in einer Schenke verbringt, gleich traviagefällig zu nennen ist. Und meine Älteste dient dem Baron auf Crann Feyaras. Sie kommt regelmäßig hinab ins Dorf. Wenn Ihr mögt, kann ich sie für heute Abend einladen. Mit Glück kann sie sich freimachen und uns vielleicht in dieser Frage helfen.“ Dílleachdan nickte bedächtig und nachdenklich. “Was Ihr da sagt, schlägt ein bisschen in dieselbe Kerbe wie meine Gedanken. Ich habe mich selber in Tommeldomm umgeschaut, und es ist, wie ich vorhin gesagt habe – bei den jungen Frauen dort konnte ich mir bei keiner so recht vorstellen, dass sie mich nicht nur als Geweihten, sondern auch als Ehemann ansehen würde. Es hat schon seinen Grund, warum unsereins so häufig untereinander heiratet.”

Die Ältere hatte nach ihrem Becher gegriffen und drehte diesen nun nachdenklich zwischen den Fingern. Dabei wiegte sie den Kopf, ganz so, als hielte sie Zwiesprache. Schließlich stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. “Ich mache Euch einen Vorschlag: Ihr bleibt jetzt erst einmal hier. Bran wird Euch eine Kammer zurechtmachen. Und morgen halten wir Familienrat. Da werden sich die Kinder eben mal frei machen müssen. Was haltet Ihr davon? Auffordernd blickte sie Dílleachdan an. Der Geweihte errötete wieder ein wenig. Es war eine Sache, ein solch delikates Anliegen einer Traviadienerin vorzutragen, die ihm gewissermaßen mütterlichen Rat geben konnte – aber eine ganz andere Sache, darüber mit ihren Kindern zu reden, die doch in seinem Alter waren und sonst etwas von ihm denken könnten. Aber da musste er nun durch – und je eher er sich daran gewöhnte, vor einer jungen Frau über seine Gefühle und Gedanken zu reden, desto besser war es wohl. Ganz gegen seine Gewohnheit erwiderte er auf die Frage der Geweihten nicht mit einer wörtlich genommenen Antwort (denn was er von dem Vorschlag hielt, hätte er kaum in Worte fassen können), sondern ging gleich zum nächsten Thema über: “Wie kann ich mich bis dahin nützlich machen?” Geselwen lächelte nachsichtig. “Genießt einfach Euren Aufenthalt”, meinte sie. “Ich muss Euch ja wohl nicht sagen, dass es mir eine Freude ist, Gäste zu bewirten.” Kurz hielt sie inne und tat dann einen leisen Seufzer. “Auf der anderen Seite könnte ich die Füße an Eurer Stelle allerdings wohl auch nicht stillhalten. Was haltet Ihr davon, wenn wir morgen gemeinsam für das Mahl sorgen? Mich würde interessieren, welche Gerichte Ihr in Tommeldomm zubereitet. Und wenn ihr bis dahin die Hände beschäftigen wollt, sorgt gern für ein wenig Dekoration für die Tafel.” “Dekoration?”, fragte Dílleachdan überrascht. “Haben wir etwas zu feiern? Aber auf jeden Fall möchte ich Euch gern zur Hand gehen. Es gibt allerdings wohl ein paar Dinge, die ich besser kann als … Dekoration.” “Nun”, lächelte Geselwen, “dann lasse ich mich da gern überraschen. Ihr kümmert Euch um die Suppe und die Nachspeise. Ich sorge für das Hauptgericht”, entschied die Ältere resolut.