Der Wilde Mann von Widdernhall

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Zum Geleit

So manches Märchen erzählt von der alten Feindschaft zwischen dem Einhorn und dem Auerochsen und davon, wie es dem klugen Einhorn gelingt, den jähzornigen Stier zu überlisten und ihm immer wieder zu entfliehen. Und während das Einhorn allgemein als Symboltier von Nandus göttlicher Weisheit gilt, so ist es mehr als ungewiss, welchem Herrn die wilden Rinder dienen. Hört man doch von den Orks, sie verehrten einen gehörnten Götzen in Stiergestalt, und auch bei den Tulamiden sollen heidnische Kulte um Kuhgottheiten existieren, ja selbst vom Tanz um ein goldenes Kalb will man schon gehört haben. So ist also von dem wilden Vieh im Allgemeinen nichts Gutes zu erwarten, und die gemeine Frau tut gut daran, ihnen aus dem Wege zu gehen. Als besonders launisch und aggressiv gelten dabei die auch in unseren Wäldern verbreiteten Auerochsen. Und es ist ein Exemplar dieser Gattung, welches seit einigen Jahren im östlichen Windhag von sich reden macht. Der so genannte Alte vom Chattenwald – benamt nach dem für seine Wildkatzen bekannten Forst, in welchem er zuerst gesichtet wurde – gilt als gefährlicher Einzelgänger, über den im Volke allerlei schaurige Geschichten erzählt werden.

Eine im Winter des Jahres 1029 BF auf Geheiß des Barons von Widdernhall durchgeführte Jagd auf das Tier blieb zwar erfolglos, führte aber zur Ergreifung des später so genannten Wilden Mannes von Widdernhall, welcher kurz darauf jedoch ebenfalls unter mysteriösen Umständen verschwand und von dem bis heute jede glaubwürdige Spur fehlt.


Der Wilde Mann von Widdernhall

Im Folgenden sei die Geschichte um den Wilden Mann von Widdernhall wiedergegeben, so wie man sie sich an den Lagerfeuern und in den Spinnstuben des windhager Landes erzählt:


Noch letzte Nacht hatte der Rondrikan mit dichtem Schneetreiben wütend übers Land getobt, und nur der Schutz der schroff aufragenden Windhagberge hatte den Ort Widdernhall vor dem Schlimmsten bewahrt. Mit dem Morgen aber war der Zorn der Elemente einem stillen, sonnigen Wintertag gewichen. Firuns Atem hatte selbst den Burgweiher zufrieren lassen und die Eiszapfen an der Traufe des Tsatempels glitzerten in allen Farben des Regenbogens. Jauchzend begannen die Kinder des Dorfes, mächtige Schneetrolle zu errichten, denn dieses Vergnügen bot sich ihnen nicht in jedem Jahr. Gero und Tjalka waren in ihren Schmieden vollauf damit beschäftigt, Pferde mit Wintereisen zu beschlagen, während vielerorts die Dungschlitten hergerichtet wurden. Der schwere Schneefall hatte die Einwohner Widdernhalls überrascht und so eilte Leuthwin, der Bauernmeister des Dorfes, emsig umher, um die Untertanen Baron Gringulfs zum Schneeschaufeln anzuhalten. Doch mit seinen Gedanken war er nicht bei der Sache.

In dieser letzten Nacht hatte Minka gekalbt. Sie war die beste Kuh in seinem Stall und hatte ihm schon viele gesunde Kälber geschenkt. Doch dieses hatte er nicht geplant. Wie überrascht war er gewesen, als er im Spätsommer hatte feststellen müssen, dass Minka tragend war. Er hatte der Hirtin Idra schwere Vorwürfe gemacht, doch auch sie hatte es nicht erklären können. Und nun das. Weiß! Ein weißes Bullenkalb! Wie hatte das bloß passieren können? Es war eine schwere Geburt gewesen und seine Minka wäre fast dabei draufgegangen. Das erste, was seine Frau Tsarinde beim Anblick des Kalbes ausgerufen hatte, war: „Bei allen Zwölfen, das ist ja ein Bastard!“ Na, wenn das kein schlechtes Omen war! Und seine Tochter Erdrun war in Tränen ausgebrochen, schließlich hatte er ihr doch Minkas nächstes Kälbchen versprochen gehabt.

Nicht nur die Fellfarbe sprach für sich, auch der ganze Körperbau des erschreckend großen, unbeholfenen Wesens ließ keinen Zweifel daran, dass der Bulle, der Minka gedeckt hatte, nicht dem Güldenländer Braunvieh angehörte. Leuthwin lief ein Schauer über den Rücken. Er hatte sehr wohl schon Erzählungen über die weißen Stiere der Tulamidenlande gehört, aber hier, in den rauen Windhagbergen, gab es nur ein solches Tier, von dem die Sagen und Märchen berichteten: Den Alten vom Chattenwald – einen legendären Auerochsen, welcher sich schon seit vielen Jahre in den Wäldern des östlichen Windhags herumtrieb. Mit Idra, der Oberhirtin, und ihren Gehilfen würde er noch ein Hühnchen zu rupfen haben!

In den Spinnstuben des Dorfes hörte man so manche Geschichte über den Alten. So konnte man dem weißen Stier angeblich nur bei Vollmond begegnen, wenn er geistergleich durch die nächtlichen Wälder streifte. Wahlweise handelte es sich dann um ein Tsa und Ifirn heiliges Tier mit schneeweißem Fell und silbernem Gehörn oder um einen von Firun gestraften Jagdfrevler, welcher seiner Erlösung harrend dazu verdammt sein sollte, friedlos durch die Wälder zu ziehen. Das gleiche erzählte man sich aber auch über einen geizigen Ritter, welcher einst einem alten Bettler kein Almosen geben wollte, diesen als Hornochsen beschimpfte und davonjagen ließ. Jener offenbarte sich jedoch als ein mächtiger Druide des Waldes und belegte den hochfahrenden Ritter mit einem Fluch, der ihn selbst in einen Ochsen verwandelte. Weiterhin ging die Mär, dieser Ritter finde nur Erlösung, wenn es ihm in seiner jetzigen Gestalt gelänge, einer Jungfrau das Leben zu retten. Diese würde er dann als Braut heimführen auf sein prächtiges Schloss. Doch welche Jungfrau würde sich schon in den tiefen Wäldern in Lebensgefahr begeben, nur in der wagen Hoffnung, dass ihr ein gehörntes Ungetüm zur Hilfe eilte?

Kaum ein Bericht konnte als glaubwürdig gelten. Lediglich einige Köhler, Kräuterweiblein und verirrte Wanderer wollten den weißen Auerochsen gesichtet haben und beschrieben ein mächtiges Tier mit ausladenden Hörnern und zottiger Mähne, dessen Blick aus roten, bösartigen Augen ihnen durch Mark und Bein gegangen sei und beinahe den Verstand geraubt hätte. Mehrere Jagden auf das geheimnisvolle Tier waren erfolglos geblieben. Und nun dies.

Dieses Mal nicht! Er würde den Unheimlichen finden und zur Strecke bringen. Und wenn erst die prächtige Trophäe seine Stube zierte, würden auch all diejenigen verstummen, die seine Fähigkeiten als Sippenvorstand anzweifelten. Der Ruhm einer solchen Heldentat würde ihn unangreifbar machen. Noch heute würde er beim Baron vorsprechen und ihn darum bitten, für den nächsten Vollmond eine Jagdgesellschaft zusammenstellen zu dürfen. Und auch die fremdländischen Gäste, welche sich vor einer Woche in Danas Gasthof einquartiert hatten und über deren Ziele und Absichten kaum jemand etwas wusste, würden sich vielleicht für die Hatz gewinnen lassen – hatten sie doch so manchen Abend in der Schankstube prahlerisch von ihren unerschrockenen Heldentaten berichtet. Er brauchte jemanden, der sich mit Flüchen, Geistern und unheimlicher Magie auskannte, und auf den wunderlichen alten Ingalf wollte er sich dabei nicht verlassen.

Nach dem frühen und harten Wintereinbruch im Monat Travia und einigen merkwürdigen Vorfällen in der Windhager Baronie Widdernhall, machte sich im Monat Boron eine Jagdgesellschaft auf, um den als Bedrohung erscheinenden Auerochsen zu finden und das Untier zur Strecke zu bringen. Durch die verwegene Jagd hoffte man zudem, den grimmigen Firun im Angesicht eines drohenden Hungerwinters milde zu stimmen und des Weiteren ein wenig Ruhm auf windhagsche Schilde zu heften. Für das von dem zu jener Zeit in Xorlosch weilenden Baron Gringulf S. d. Gromosch autorisierte und vom örtlichen Bauernmeister Leuthwin Eisenblatt aus Udamans Sippe angeführte Unternehmen wurden neben den wackersten Einwohnern Widdernhalls auch ortsfremde Spezialisten hinzugezogen. Von „weit gereisten Recken“ war da die Rede, wobei die Mitwirkung von zumindest einem ausgewiesenen Zauberkundigen besonders hervorzuheben ist. Durchführbar wurde das Unterfangen erst durch die einfallsreiche Verwendung von Schneeschuhen, wie man sie aus den Nordlanden kennt, denn die ungewöhnlich ergiebigen Schneefälle hatten Feld und Flur unter einer mehrere Spann dicken weißen Decke verschwinden lassen. Ausgestattet mit den dichtesten Winterpelzen und den solidesten Waffen, welche verfügbar waren, drang die Gesellschaft in die verschneiten Bergwälder vor. Wenn es auch als dem Firun gefällig gilt, sich unter Einsatz des eigenen Lebens den Herausforderungen von Wildnis und Witterung zu stellen, so erfüllte ebendies die einfachen Landleute nicht mit Freude, denn die fühlten sich eher den fürsorglichen Göttinnen Travia und Peraine verbunden als dem hartherzigen Wintergott.

Tage bangen Wartens vergingen, in welchen die Dörfler ängstlich um die sichere Rückkehr ihrer wagemutigen Angehörigen und für den Erfolg der Jagd beteten. Was gab das für ein Hallo, als am vierten Abend endlich die Ankunft der Truppe gemeldet wurde. Was jedoch Aufsehen erregte, war die Tatsache, dass man mitnichten das Gehörn und das zottige Fell des weißen Ochsens als Trophäe mit sich führte, sondern einen großen, buckligen, an Händen und Füßen gebundenen Mann. Dieser wurde mehr von seinem verfilzten, wild wuchernden grauen Haar als von den spärlichen Lumpen seiner völlig unzureichenden Kleidung bedeckt. Die abstoßend platte – womöglich gebrochene – Nase war kaum unter dem struppigen Bart zu erahnen und die Nägel seiner Finger und Zehen waren zu hufartigen Klauen gewachsen. Nicht nur sein Aussehen, auch sein Gebaren erinnerten mehr an ein wildes Tier, als an einen Menschen. Ein Blick aus seinen blutunterlaufenen Augen und ein leises Grollen aus seiner Kehle genügten, um die sich neugierig nähernden Kinder schreiend auseinander stieben zu lassen. Nach kurzer Diskussion, was mit dem Gefangenen zu geschehen habe, entschied man sich dafür, ihn vorläufig im Hundezwinger von Grubrechs Fuhrhof zu verwahren, wo zwei kräftige Mägde zurückblieben, um ihn zu bewachen.

Nachdem zunächst allerlei Volk herbeigeströmt war, um den Wilden Mann aus der Nähe zu sehen, drängte man sich bald danach im Saal des Gasthauses, um die abenteuerliche Geschichte der Ausgezogenen zu hören. Mehrere Teilnehmer der Jagd wiesen Blessuren auf, denn man war mit einem Rudel Waldwölfe aneinander geraten, welches zwar von der entschlossen auftretenden Gruppe schnell in die Flucht geschlagen werden konnte, ihr aber in den folgenden Stunden stets auf den Fersen blieb, was sichtlich an den Nerven so manches armen Landmannes gezehrt hatte. Außerdem war eine der gedungenen Streiterinnen von der Kreatur bösartig zerkratzt worden. Diese hatte sogar versucht, sie zu beißen, bis ihre Gefährten den Wüterich schließlich überwältigen konnten.

Wie zu hören war, hatte man lange suchen müssen, ehe man im Schnee auf die erste frische Fährte eines Auerochsen stieß. Als diese sich jedoch zwischen den Felsen verlor, teilte man sich in mehrere kleine Gruppen, um die Spur wieder zu finden. Bei dieser Gelegenheit äußerte bereits der erste den Verdacht, er fühle sich beobachtet. Und tatsächlich berichtete die Gruppe fahrender Recken, wie sie von einem zunächst unsichtbaren Beobachter verfolgt wurde und wie es ihr schließlich gelang, diesen zu entdecken und dingfest zu machen. Letzteres gelang jedoch erst nach einer wilden Verfolgungsjagd, die quer durch den verschneiten Winterwald, über einen gefrorenen Wasserfall und scharfkantige Klippen hinweg führte. Hatte man zunächst an ein wildes Tier, vielleicht sogar einen Waldschrat, geglaubt, so erwies sich das Ungeheuer schließlich im Kampf als geifernder Derwisch von animalischer Wildheit, doch mit menschlichen Zügen. Trotz angedrohter Gewalt war es nicht möglich, sich mit dem Wilden Mann zu verständigen, da er auf keine ihm gestellte Frage mit verständlichen Worten antwortete, stattdessen wirres Zeug brabbelte, grimmig knurrte oder hysterisch zu kreischen begann. Dies alles war so entsetzlich anzuhören und anzusehen, dass einige der Anwesenden wie von Furien gehetzt das weite suchten oder vor Furcht nur noch unverständlich lallen konnten. Doch schließlich gelang es den Tapfersten, den Unhold zu bändigen und zu binden, woraufhin der Bauernmeister die Jagd für beendet erklärte. Den Gefangenen nahm man mit, denn je weniger solches Gelichter den Windhag unsicher mache, umso besser.

Die Luft im Saal des Gasthauses hätte man schneiden können, so heiß und stickig war es mittlerweile geworden, und die Diskussion erhitzte sich an der Frage, was man nun mit dem Wilden Mann anfangen solle. Die einen wollten ihn sofort erschlagen, damit er nicht ihre Kinder fresse, andere – allen voran die junge Geweihte der Tsa – wollten ihn studieren und lehren und wieder andere wollten ihn gar an einen Schausteller verkaufen. Mehrere rieten, die Rückkehr Baron Gringulfs aus Xorlosch abzuwarten, da eine solche Entscheidung nicht dem Dorfrat obläge, sondern allein der adligen Herrschaft. Mitten in diese Debatte platzte ein gedämpft klingendes Knallen und Bersten, welches von weit her durch das nächtliche Dorf hallte. Erschrocken drängten die Menschen zur Tür hinaus, wo sie überrascht auf die beiden Wächterinnen stießen, welche sich von Neugier getrieben von ihrem Posten entfernt hatten, um auch zu hören was gesprochen wurde.

Unverzüglich begab man sich nun zum am Rande des Dorfes gelegenen Fuhrhof, von wo das Geräusch gekommen war. Das Licht des vollen Mondes beschien eine unheilvolle Szenerie: Der aus massiven Bohlen gezimmerte Hundezwinger war geborsten wie ein geplatzter Kürbis, die armdicken Stangen geknickt wie Zahnstocher, die Fesseln zerrissen, der Unhold nirgends mehr zu sehen. Trotz eilig herbeigeholter Fackeln und Laternen, war es nicht möglich, die Spur des Flüchtigen aufzunehmen, da der Boden in der Umgebung zuvor von unzähligen Schaulustigen zertrampelt worden war. Allein den zerschmetterten Körper eines Hundes fand man anbei im blutigen Schnee. Erwartungsvoll blickte man sich nach dem reisenden Magier und seinen Gefährten um, da man sich von ihnen eine Erklärung der unerhörten Ereignisse erhoffte. Es stellte sich jedoch heraus, dass diese offenbar den Tumult genutzt hatten, um den Ort klammheimlich zu verlassen, was sogleich zu Spekulationen darüber führte, ob nicht die Fremden gar Komplizen des Wilden Mannes gewesen seien und die ganzen Geschehnisse der letzten Tage, vom Auftauchen der Fremden angefangen, nur eine unheilige Inszenierung. Aus diesem Grund wurden erneut Wachen eingeteilt und ein großer Götterdienst für den nächsten Morgen angesetzt, um das Dorf mit alveranischem Beistand vor Unheil zu bewahren. Wie sich später zeigte, waren die fremden Glücksritter bereits zu Beginn der Versammlung unverzüglich aufgebrochen, nachdem der Magier, wie ein Augenzeuge gesehen haben will, mit besorgtem Gesichtsausdruck mehrere Zaubersprüche auf seine verwundete Gefährtin angewendet hatte.

Das Auftauchen und Verschwinden des Mannes aus den Wäldern gibt weiterhin Rätsel auf. Über seine Herkunft und seinen Verbleib ist nichts bekannt, ebenso wenig darüber, wie es ihm möglich war, seine Fesseln zu sprengen und sein Gefängnis zu zerstören – hätte es doch dazu der Kräfte eines rasenden Bullen bedurft. Baron Gringulf von Widdernhall zeigte sich bei seiner Rückkehr erschüttert und versprach demjenigen eine Belohnung, dem es gelänge, das Geheimnis des Wilden Mannes vom Windhag zu lüften.

(aufgezeichnet von Windwanderer)


Meisterinformationen

Der wahre Hintergrund der Geschichte um den Wilden Mann von Widdernhall sei hier verraten.


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